Schweizerisches Strafgesetzbuch


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Art. 62a

Nicht­be­wäh­rung

 

1 Be­geht der be­dingt Ent­las­se­ne wäh­rend der Pro­be­zeit ei­ne Straf­tat und zeigt er da­mit, dass die Ge­fahr, der die Mass­nah­me be­geg­nen soll, fort­be­steht, so kann das für die Be­ur­tei­lung der neu­en Tat zu­stän­di­ge Ge­richt nach An­hö­rung der Voll­zugs­be­hör­de:

a.
die Rück­ver­set­zung an­ord­nen;
b.
die Mass­nah­me auf­he­ben und, so­fern die Vor­aus­set­zun­gen da­zu er­füllt sind, ei­ne neue Mass­nah­me an­ord­nen; oder
c.
die Mass­nah­me auf­he­ben und, so­fern die Vor­aus­set­zun­gen da­zu er­füllt sind, den Voll­zug ei­ner Frei­heits­s­tra­fe an­ord­nen.

2 Sind auf Grund der neu­en Straf­tat die Vor­aus­set­zun­gen für ei­ne un­be­ding­te Frei­heits­s­tra­fe er­füllt und trifft die­se mit ei­ner zu Guns­ten der Mass­nah­me auf­ge­scho­be­nen Frei­heits­s­tra­fe zu­sam­men, so spricht das Ge­richt in An­wen­dung von Ar­ti­kel 49 ei­ne Ge­samt­stra­fe aus.

3 Ist auf Grund des Ver­hal­tens des be­dingt Ent­las­se­nen wäh­rend der Pro­be­zeit ernst­haft zu er­war­ten, dass er ei­ne Tat im Sin­ne von Ar­ti­kel 64 Ab­satz 1 be­ge­hen könn­te, so kann das Ge­richt, das die Mass­nah­me an­ge­ord­net hat, auf An­trag der Voll­zugs­be­hör­de die Rück­ver­set­zung an­ord­nen.

4 Die Rück­ver­set­zung dau­ert für die Mass­nah­me nach Ar­ti­kel 59 höchs­tens fünf Jah­re, für die Mass­nah­men nach den Ar­ti­keln 60 und 61 höchs­tens zwei Jah­re.

5 Sieht das Ge­richt von ei­ner Rück­ver­set­zung oder ei­ner neu­en Mass­nah­me ab, so kann es:

a.
den be­dingt Ent­las­se­nen ver­war­nen;
b.
ei­ne am­bu­lan­te Be­hand­lung oder Be­wäh­rungs­hil­fe an­ord­nen;
c.
dem be­dingt Ent­las­se­nen Wei­sun­gen er­tei­len; und
d.
die Pro­be­zeit bei ei­ner Mass­nah­me nach Ar­ti­kel 59 um ein bis fünf Jah­re, bei ei­ner Mass­nah­me nach den Ar­ti­keln 60 und 61 um ein bis drei Jah­re ver­län­gern.

6 Ent­zieht sich der be­dingt Ent­las­se­ne der Be­wäh­rungs­hil­fe oder miss­ach­tet er die Wei­sun­gen, so ist Ar­ti­kel 95 Ab­sät­ze 3–5 an­wend­bar.

BGE

148 IV 1 (6B_544/2021, 6B_610/2021) from 23. August 2021
Regeste: Art. 59 Abs. 1 und 4, Art. 62a Abs. 1 lit. b, Art. 62c Abs. 1 lit. a, Abs. 3 und 4, Art. 63 Abs. 1, Art. 63a Abs. 2 und 3, Art. 63b Abs. 5 und Art. 64 Abs. 1 StGB; Art. 2 Abs. 2, Art. 29 f., Art. 80 Abs. 1, Art. 197 Abs. 1 lit. a, Art. 393 und Art. 398 Abs. 1-3 StPO; Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 BV; ambulante und stationäre therapeutische Massnahme; Antrag auf nachträgliche Anordnung der Verwahrung infolge Aussichtslosigkeit der stationären therapeutischen Massnahme und Antrag auf originäre Verwahrung infolge neuer Anlassdelikte; Verfahrensvereinigung; Zuständigkeit; Grundsatz der Formstrenge. Eine direkte Umwandlung einer ambulanten Massnahme in eine Verwahrung ist nicht möglich (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3.4.1). Das Gericht hat im Rahmen von Art. 59 Abs. 4 Satz 2 StGB lediglich über die Verlängerung der stationären Massnahme zu befinden. Für die Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme infolge Aussichtslosigkeit ist die Vollzugsbehörde zuständig. Nach rechtskräftiger Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme ist es am erstinstanzlichen Gericht, auf Antrag der Vollzugsbehörde über die Rechtsfolgen zu befinden (E. 3.4.2). Dass das Berufungsgericht im zweitinstanzlichen Entscheid über die Nichtverlängerung der stationären Massnahme nach Art. 59 Abs. 4 Satz 2 StGB zu Unrecht eine ambulante Massnahme anordnete, hinderte die Vollzugsbehörde nicht daran, nach Aufhebung der stationären Massnahme infolge Aussichtslosigkeit beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht in Anwendung von Art. 62c Abs. 4 StGB eine nachträgliche Verwahrung zu beantragen (E. 3.4.3). Tragweite des in Art. 2 Abs. 2 StPO verankerten Grundsatzes der Formstrenge (E. 3.5.1). Der Grundsatz der Formstrenge steht einer Gesetzesauslegung und einer richterlichen Lückenfüllung nicht entgegen (E. 3.5.2). Die kantonalen Instanzen sprachen sich zu Recht für eine Vereinigung des Verfahrens auf nachträgliche Verwahrung im Sinne von Art. 62c Abs. 4 StGB mit dem ebenfalls hängigen Verfahren auf originäre Verwahrung infolge neuer Anlassdelikte und für die abschliessende Beurteilung der Frage der Verwahrung im erstinstanzlichen Strafurteil aus. Die Zuständigkeit für die Beurteilung der Verwahrung im Rechtsmittelverfahren liegt damit ausschliesslich bei der Berufungsinstanz (E. 3.6).

 

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