Schweizerisches Strafgesetzbuch


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Art. 56

1. Grund­sät­ze

 

1 Ei­ne Mass­nah­me ist an­zu­ord­nen, wenn:

a.
ei­ne Stra­fe al­lein nicht ge­eig­net ist, der Ge­fahr wei­te­rer Straf­ta­ten des Tä­ters zu be­geg­nen;
b.
ein Be­hand­lungs­be­dürf­nis des Tä­ters be­steht oder die öf­fent­li­che Si­cher­heit dies er­for­dert; und
c.
die Vor­aus­set­zun­gen der Ar­ti­kel 59–61, 63 oder 64 er­füllt sind.

2 Die An­ord­nung ei­ner Mass­nah­me setzt vor­aus, dass der mit ihr ver­bun­de­ne Ein­griff in die Per­sön­lich­keits­rech­te des Tä­ters im Hin­blick auf die Wahr­schein­lich­keit und Schwe­re wei­te­rer Straf­ta­ten nicht un­ver­hält­nis­mäs­sig ist.

3 Das Ge­richt stützt sich beim Ent­scheid über die An­ord­nung ei­ner Mass­nah­me nach den Ar­ti­keln 59–61, 63 und 64 so­wie bei der Än­de­rung der Sank­ti­on nach Ar­ti­kel 65 auf ei­ne sach­ver­stän­di­ge Be­gut­ach­tung. Die­se äus­sert sich über:

a.
die Not­wen­dig­keit und die Er­folgs­aus­sich­ten ei­ner Be­hand­lung des Tä­ters;
b.
die Art und die Wahr­schein­lich­keit wei­te­rer mög­li­cher Straf­ta­ten; und
c.
die Mög­lich­kei­ten des Voll­zugs der Mass­nah­me.

4 Hat der Tä­ter ei­ne Tat im Sin­ne von Ar­ti­kel 64 Ab­satz 1 be­gan­gen, so ist die Be­gut­ach­tung durch einen Sach­ver­stän­di­gen vor­zu­neh­men, der den Tä­ter we­der be­han­delt noch in an­de­rer Wei­se be­treut hat.

4bis Kommt die An­ord­nung der le­bens­läng­li­chen Ver­wah­rung nach Ar­ti­kel 64 Ab­satz 1bis in Be­tracht, so stützt sich das Ge­richt beim Ent­scheid auf die Gut­ach­ten von min­des­tens zwei er­fah­re­nen und von­ein­an­der un­ab­hän­gi­gen Sach­ver­stän­di­gen, die den Tä­ter we­der be­han­delt noch in an­de­rer Wei­se be­treut ha­ben.55

5 Das Ge­richt ord­net ei­ne Mass­nah­me in der Re­gel nur an, wenn ei­ne ge­eig­ne­te Ein­rich­tung zur Ver­fü­gung steht.

6 Ei­ne Mass­nah­me, für wel­che die Vor­aus­set­zun­gen nicht mehr er­füllt sind, ist auf­zu­he­ben.

55 Ein­ge­fügt durch Ziff. I des BG vom 21. Dez. 2007 (Le­bens­läng­li­che Ver­wah­rung ex­trem ge­fähr­li­cher Straf­tä­ter), in Kraft seit 1. Aug. 2008 (AS 2008 2961; BBl 2006 889).

BGE

148 IV 89 (6B_1397/2019) from 12. Januar 2022
Regeste: Art. 391 Abs. 2 StPO; die erstmalige Anordnung einer ambulanten Massnahme durch das Berufungsgericht verstösst gegen das Verschlechterungsverbot (reformatio in peius). Verzichtet das erstinstanzliche Gericht auf die Anordnung einer beantragten ambulanten Massnahme und hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Anschlussberufung deren Anordnung nicht erneut beantragt, verletzt das Berufungsgericht das Verschlechterungsverbot, wenn es eine ambulante Massnahme anordnet (E. 4.1-4.4).

148 IV 419 (6B_273/2021) from 25. August 2022
Regeste: Art. 5 i.V.m. Art. 15 JStG; Art. 431 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 51 und 110 Abs. 7 StGB; Entschädigung im Jugendstrafrecht nach (vorsorglicher) Unterbringung. Im Jugendstrafrecht führt der Umstand, dass der aufgrund der (vorsorglichen) Unterbringung erstandene Freiheitsentzug länger war als der ausgesprochene Freiheitsentzug, nicht zu einer finanziellen Entschädigung des betroffenen Jugendlichen gestützt auf Art. 431 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 3 JStPO, da der mit der (vorsorglichen) Unterbringung verbundene Freiheitsentzug keine Untersuchungshaft i.S.v. Art. 431 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 51 und Art. 110 Abs. 7 StGB darstellt (E. 1.6). Ein übergangsweiser Aufenthalt eines Jugendlichen, dem gegenüber eine (vorsorgliche) geschlossene Unterbringung verfügt wurde, in einer Straf- oder Haftanstalt kann zulässig sein, soweit dies erforderlich ist, um eine geeignete Einrichtung zu finden. Kriterien für die Beurteilung der Zulässigkeit der Dauer bis zum Eintritt in eine geeignete Einrichtung (E. 1.7.3 mit Hinweis auf BGE 148 I 116 E. 2.4). Zulässigkeit im konkreten Fall bejaht (E. 1.7.4).

149 IV 325 (6B_766/2022) from 17. Mai 2023
Regeste: Art. 63b Abs. 5, Art. 56 Abs. 3 StGB; Prognoseinstrumente sind immer nur Bestandteil der klinischen Einschätzung des Sachverständigen; die Anwendung eines aktuarischen (statischen) Prognoseinstruments für eine Person fortgeschrittenen Alters führt nicht unbesehen dazu, dass dem Gutachten die Qualifikation als rechtsgenügende Entscheidgrundlage abzusprechen wäre. Die "Altersproblematik" ist in der forensischen Psychiatrie in Diskussion begriffen, insbesondere im Zusammenhang mit aktuarischen (statischen) Prognoseinstrumenten. Daraus lässt sich indes nicht ableiten, dass solche Instrumente per se nicht auf ältere Straftäter angewandt werden dürfen. Stehen weder spezifizierte Rückfallstatistiken noch individuell für ältere Menschen entwickelte Prognoseinstrumente zur Verfügung, ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass jedes Prognoseinstrument (und auch die Basisrate) ein blosses Hilfsmittel ist, um Anhaltspunkte über die Ausprägung des strukturellen Grundrisikos eines Betroffenen zu liefern (E. 4).

149 IV 342 (6B_1445/2021) from 14. Juni 2023
Regeste: Art. 3 Abs. 2 JStG; Art. 66a ff. StGB; Landesverweisung von Übergangsstraftätern. Ein dem Erwachsenenstrafrecht unterstehendes Delikt eines jungen Straftäters kann eine Anlasstat für eine (nicht obligatorische) Landesverweisung darstellen, auch wenn dieser gleichzeitig für weitere Taten verurteilt wird, die er als Jugendlicher begangen hat (E. 2).

150 IV 1 (6B_953/2023) from 15. Dezember 2023
Regeste: Art. 61 StGB; Massnahmen für junge Erwachsene, Untermassverbot. Das aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip abgeleitete Untermassverbot, wonach Dauer und Eingriffsintensität der Massnahme im Verhältnis zur aufgeschobenen Strafe nicht zu geringfügig sein dürfen, ist in Zusammenhang mit Massnahmen für junge Erwachsene zu berücksichtigen (E. 2.3.1 und 2.4.2). Längere Freiheitsstrafen, bei denen die maximale Dauer der Massnahme nicht einmal zwei Dritteln der Strafzeit gleichkommt, sind nur ausnahmsweise zwecks stationärer Behandlung auszusetzen, wenn die Erfolgsaussichten besonders günstig sind bzw. ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich durch den Vollzug der Freiheitsstrafe mit ambulanter Behandlung von vornherein nicht erreichen lässt (E. 2.3.1).

150 IV 38 (7B_843/2023) from 20. November 2023
Regeste: a Art. 78 ff. BGG; Art. 222 und 429-431 StPO; Zulässigkeit der Beschwerde in Strafsachen. Gegen kantonal letztinstanzliche Entscheide über die Anordnung von Sicherheitshaft im selbstständigen gerichtlichen Nachverfahren betreffend die nachträgliche Anordnung einer stationären Massnahme steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offen. Über Haftentschädigungs- und Genugtuungsbegehren ist indes nicht im Haftprüfungsverfahren zu entscheiden, sondern im gesetzlich dafür vorgesehenen Haftentschädigungsverfahren (E. 1).

 

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