Schweizerische Strafprozessordnung
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Art. 139 Grundsätze
1 Die Strafbehörden setzen zur Wahrheitsfindung alle nach dem Stand von Wissenschaft und Erfahrung geeigneten Beweismittel ein, die rechtlich zulässig sind. 2 Über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig, der Strafbehörde bekannt oder bereits rechtsgenügend erwiesen sind, wird nicht Beweis geführt. BGE
137 IV 219 (1B_123/2011) from 11. Juli 2011
Regeste: Art. 9, 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 1 BV; Art. 6, 10 Abs. 3, Art. 139 Abs. 1, Art. 324 i.V.m. Art. 319 Abs. 1 sowie Art. 453 Abs. 1 StPO; Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 i.V.m. Art. 132 Abs. 1 BGG; Art. 29 Abs. 3 BGerR; Art. 122-125 StGB; Einstellung der Strafuntersuchung; strafprozessualer Grundsatz "in dubio pro duriore"; Untersuchungsmaxime; rechtliches Gehör; Willkürverbot. Intertemporalrechtliche Bestimmungen betreffend die Anwendbarkeit der StPO (E. 1.1), des BGerR (Zuständigkeit; E. 1.2) und des BGG (E. 2.1). Beschwerdeberechtigung des Privatklägers gegen definitive Verfahrenseinstellungen, wenn die Frage einer möglichen Strafbarkeit von weiteren Untersuchungsergebnissen abhängt (E. 2.2-2.7). Im vorliegenden Fall lässt sich eine strafbare Körperverletzung (durch einen medizinischen Kunstfehler) nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen. Es bestehen Anhaltspunkte für schwere, sich langfristig auswirkende Gesundheitsschäden zum Nachteil des Privatklägers infolge eines (durch Erbgut-Schädigungen verursachten) deutlich erhöhten Krebsrisikos. Die definitive Einstellung des Strafverfahrens durch die Untersuchungsbehörde mangels Strafbarkeit verstösst gegen Bundesrecht, insbesondere gegen den Grundsatz "in dubio pro duriore" (E. 3-8). Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist auf die Frage der Einstellung oder Anklageerhebung nach Abschluss der Strafuntersuchung nicht anwendbar (E. 7.3).
138 IV 47 (6B_453/2011) from 20. Dezember 2011
Regeste: Verwertbarkeit von Beweisen aus einem Steuerveranlagungs- oder Steuerhinterziehungsverfahren im Strafverfahren wegen Steuerbetrugs (Art. 186 Abs. 1 DBG; Art. 59 Abs. 1 StHG). Verwertbarkeit von Aussagen eines Steuervertreters, welche dem Vertretenen anzurechnen sind (E. 2.1 und 2.4). Aussagen des Steuerpflichtigen und von diesem im Nachsteuerverfahren eingereichte Belege sind unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes "nemo tenetur se ipsum accusare" nicht generell unverwertbar, sondern nur, wenn er gemahnt und ihm eine Ermessensveranlagung oder eine Verurteilung wegen Verletzung von Verfahrenspflichten angedroht wurde (E. 2.6). Kam die kantonale Steuerverwaltung ihren Aufklärungspflichten gemäss Art. 153 Abs. 1bis und Art. 183 Abs. 1 Satz 2 DBG nach, sind die Beweismittel aus dem Nachsteuer- und Hinterziehungsverfahren grundsätzlich auch im Steuerbetrugsverfahren verwertbar (E. 2.8).
143 IV 380 (6B_986/2016) from 20. September 2017
Regeste: Art. 107 et 139 al. 2 StPO; Anspruch auf rechtliches Gehör, gerichtsnotorische Tatsachen im Internet. Im Internet gelten als der Strafbehörde bekannte Tatsachen im Sinne von Art. 139 Abs. 2 StPO grundsätzlich nur Informationen, welchen aufgrund des Umstands, dass sie leicht zugänglich sind und aus verlässlichen Quellen stammen, ein offizieller Anstrich anhaftet (z.B. Bundesamt für Statistik, Eintrag im Handelsregister, Wechselkurs, Fahrplan der SBB usw.). In jedem Fall ist eine Tatsache insofern mit einer gewissen Zurückhaltung als in der Öffentlichkeit allgemein bekannt zu qualifizieren, als sich daraus eine Ausnahme von den im Strafprozess geltenden Beweisführungsgrundsätzen ergibt. Im vorliegenden Fall kommt der aus dem Internet-Wörterbuch Wiktionnaire stammenden Definition der Bezeichnung "muzz", allein gestützt auf diese Quelle, nicht die Eigenschaft als allgemeine notorische Tatsache zu (E. 1).
143 IV 387 (1B_75/2017) from 16. August 2017
Regeste: Art. 8 EMRK; Art. 13 Abs. 1, 36 Abs. 1 BV; Art. 141 Abs. 2, 197 Abs. 1 lit. a, 248, 282 StPO; Observationen durch Privatdetektive; Verwertbarkeit im Entsiegelungs- und Untersuchungsverfahren. Für systematische private Observationen im Strafprozess besteht keine gesetzliche Grundlage. Die Frage, ob die insofern rechtswidrig erhobenen Beweismittel im Entsiegelungsverfahren verwertbar oder bereits im Vorverfahren auszuscheiden sind, ist nach Art. 141 Abs. 2 StPO zu prüfen. Falls die Beweismittel nicht klarerweise unverwertbar sind, besteht kein Entsiegelungshindernis und ist die abschliessende Prüfung der Verwertbarkeit dem Sachrichter im Endentscheid vorzubehalten (E. 4).
144 IV 254 (6B_1381/2017) from 25. Juni 2018
Regeste: Art. 277 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1, Art. 278 StPO; Zufallsfund, absolute Unverwertbarkeit bei nicht genehmigter Überwachung. Die Genehmigung der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs einer Zielperson umfasst nicht auch die Überwachung des nicht beschuldigten Kommunikationspartners. Erkenntnisse über Straftaten von Personen, die in der Überwachungsanordnung nicht formell beschuldigt werden, sind Zufallsfunde im Sinne von Art. 278 Abs. 2 StPO, deren Verwertung eine Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts voraussetzt (E. 1.3). Dass vorliegend das Zwangsmassnahmengericht zu einem früheren Zeitpunkt die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs des Beschwerdeführers wegen derselben Straftatbestände genehmigte, ändert nichts am Ergebnis. Massgebend sind nicht die Straftatbestände, sondern die konkreten Straftaten (E. 1.4.2). Nicht zur Verwertung genehmigte Zufallsfunde sind absolut unverwertbar im Sinne von Art. 277 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO (E. 1.4.3).
144 IV 345 (6B_804/2017) from 23. Mai 2018
Regeste: Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 10 Abs. 2 und 3 StPO; Unschuldsvermutung und Beweiswürdigung, Wiederholung der Grundsätze. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung lässt keinen Raum für eine Anwendung der Regel in dubio pro reo auf die Sammlung und Sichtung der Beweismittel (E. 2.2.3.1). Die Unschuldsvermutung kommt erst in einem späteren Stadium zum Tragen (E. 2.2.3.2). Nur das Übergehen offensichtlich erheblicher Zweifel kann eine Verletzung des In-dubio-Grundsatzes begründen (E. 2.2.3.3). Anwendung dieser Grundsätze auf die Tatbestandselemente des Mordes (E. 2.2.3.4-2.2.3.7).
146 I 11 (6B_908/2018) from 7. Oktober 2019
Regeste: Art. 13 Abs. 2, Art. 36 Abs. 1 BV; Art. 141 Abs. 2 StPO; Verwertbarkeit von polizeilichen Aufzeichnungen der automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV). Die Erhebung und die Aufbewahrung von Aufzeichnungen der AFV stellen einen Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen dar, insbesondere in das Recht auf Privatsphäre, das den Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung miteinschliesst (E. 3.1). Für die AFV besteht im Kanton Thurgau keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. Der mit der Überwachung verbundene Eingriff in die Privatsphäre verstösst daher gegen Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 36 Abs. 1 BV (E. 3.2 und 3.3). Stellt die Polizei im Rahmen ihrer präventiven Kontrolltätigkeit strafbare Handlungen fest, ermittelt sie nach Art. 306 ff. StPO. Die Frage, ob die mangels gesetzlicher Grundlage rechtswidrig erhobenen Beweismittel im Strafprozess verwertbar sind, ist nach Art. 141 Abs. 2 StPO zu prüfen (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 4.1 und 4.2). Verwertbarkeit im vorliegenden Fall verneint (E. 4.3).
146 IV 297 (6B_1162/2019) from 30. Juni 2020
Regeste: Art. 5 Abs. 3 BV; Art. 116 Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 2 AIG; Art. 17 StGB; Förderung der rechtswidrigen Einreise; Notstandshilfe; Dublin-Verfahren. Die Beschwerde ist gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet des Asyls unzulässig. Das Bundesgericht tritt auf diesbezügliche Rügen nicht ein (E. 1.3). Der rechtfertigende wie der entschuldbare Notstand setzen voraus, dass die Gefahr nicht anders abwendbar war. Auch die Notstandshilfe steht deshalb unter der Voraussetzung der absoluten Subsidiarität. Entsprechendes gilt für den aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen (E. 2.2.1). Der Asyl-Antragsteller befand sich im nach dem Dublin-Verfahren zuständigen Mitgliedstaat Italien (E. 1.3) in einer schwierigen, aber nicht ausweglosen und auch nicht in einer aussergewöhnlichen Situation im Sinne von Art. 3 EMRK (E. 2.2.3). Ein Notstand lässt sich nicht bejahen. Das tatbestandsmässige Handeln erweist sich als rechtswidrig (E. 2.2.9). Im Strafpunkt war keine doppelte Privilegierung (Art. 116 Abs. 2 AIG kumuliert mit Art. 52 StGB) vorzunehmen (E. 2.3). |