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Art. 350 Bindung an die Anklage; Grundlage des Urteils
1 Das Gericht ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden. 2 Es berücksichtigt die im Vorverfahren und im Hauptverfahren erhobenen Beweise. BGE
147 IV 409 (6B_257/2020, 6B_298/2020) from 24. Juni 2021
Regeste: Art. 6, Art. 10 Abs. 2, Art. 350 Abs. 2 und Art. 389 StPO; Art. 189 und Art. 190 StGB; Beweiswürdigung, Ermittlungspflicht des Gerichts; Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, Nötigungsmittel. Das Berufungsgericht muss das entscheiderhebliche Beweismaterial umfassend auswerten und bei zweifelhafter Beweislage, falls vorhanden, zusätzliche sachdienliche Beweise abnehmen (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 5.3). Längeres Zuwarten bis zur Einreichung einer Strafanzeige (vorliegend rund 13 Monate) entspricht einem bei Opfern von Sexualstraftaten verbreiteten Phänomen und spricht nicht gegen die allgemeine Glaubhaftigkeit der Aussagen der Betroffenen (E. 5.4.1). Eine tatbestandsmässige Gewaltanwendung im Sinne von Art. 189 und Art. 190 StGB kann auch dann gegeben sein, wenn das Opfer seinen Widerstand aufgrund der Ausweglosigkeit resp. aus Angst vor einer erneuten Eskalation der Situation irgendwann aufgibt (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 5.5.3).
147 IV 439 (6B_282/2021) from 23. Juni 2021
Regeste: Art. 91 Abs. 2 lit. b, Art. 31 Abs. 2 und Art. 55 Abs. 7 lit. a SVG, Art. 2 Abs. 2 lit. a VRV, Art. 34 lit. a VSKV-ASTRA, Art. 12 Abs. 2 StGB; Fahren in fahrunfähigem Zustand nach Cannabiskonsum, Zulässigkeit der auf Verordnungsebene festgelegten Grenzwerte, Vorsatz. Die in Art. 2 Abs. 2 VRV festgelegte Nulltoleranz für THC im Strassenverkehr sowie der für einen entsprechenden Nachweis im Blut des Fahrzeuglenkers in Art. 34 lit. a VSKV-ASTRA festgesetzte Bestimmungsgrenzwert von 1,5 µg/L liegen im Rahmen der delegierten Rechtsetzungsbefugnisse des Bundesrats resp. des Bundesamts für Strassen und sind nicht unhaltbar (E. 3). Eventualvorsatz bejaht bei einem Fahrzeuglenker, der am Vortag Cannabis konsumiert hatte, den THC-Grenzwert im Zeitpunkt der Kontrolle deutlich überschritt und einschlägige körperliche Auffälligkeiten aufwies (E. 7.3).
148 IV 124 (6B_1404/2020) from 17. Januar 2022
Regeste: Art. 11 Abs. 1, Art. 119 Abs. 2 lit. a, Art. 319 Abs. 1 lit. a, Art. 320 Abs. 4, Art. 324 Abs. 2, Art. 333 Abs. 1 StPO; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK; Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II; Teileinstellungsverfügung; Grundsatz "ne bis in idem"; Anklageergänzung nach einem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid. Eine explizite Teileinstellungsverfügung, die nicht den ganzen Lebenssachverhalt, sondern lediglich einzelne, erschwerende Tatvorwürfe betrifft, kann zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft erforderlich sein (Bestätigung der Rechtsprechung von BGE 138 IV 241 E. 2; E. 2.6.5). Solche Teileinstellungsverfügungen führen nicht zur Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" hinsichtlich der gleichzeitig zur Anklage gebrachten Vorwürfe. Entscheidend ist, dass die Teileinstellungsverfügung auf die gleichzeitig erhobene oder bereits hängige Anklage bzw. den gleichzeitig erlassenen Strafbefehl Bezug nimmt und folglich als solche deklariert wird. Aus der Teileinstellungsverfügung muss hervorgehen, dass das Verfahren nicht als Ganzes, sondern lediglich bezüglich einzelner, nicht angeklagter, erschwerender Tatumstände eingestellt wird (Präzisierung der Rechtsprechung von BGE 144 IV 362; E. 2.6.6). Eine Anklageergänzung in Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO ist bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern nur in engen Grenzen möglich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Freisprüche zu verhindern. Hingegen darf die Privatklägerschaft ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinne einer qualifizierten Tatbegehung bzw. einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen (E. 2.6.7). Vorliegend ersuchte der Privatkläger im kantonalen Verfahren, sowohl erst- als auch zweitinstanzlich, wiederholt um Ergänzung der Anklage, wobei sein Antrag im kantonalen Verfahren nicht korrekt behandelt wurde, da die Staatsanwaltschaft weder die Anklage ergänzte noch eine anfechtbare Teileinstellungsverfügung erliess. Unter diesen Umständen ist eine Änderung bzw. Ergänzung der Anklage auch nach dem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid, mit welchem der vorinstanzliche Schuldspruch auf Beschwerde der beschuldigten Person hin wegen Verletzung des Anklageprinzips aufgehoben wurde, noch möglich (E. 2.6.8).
149 IV 42 (6B_171/2022) from 29. November 2022
Regeste: Art. 333 Abs. 1 StPO; Änderung der Anklage. Die Rückweisung an die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO setzt gemäss dem klaren Gesetzeswortlaut und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung voraus, dass der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen andern als den angeklagten Straftatbestand erfüllen könnte. Die Bestimmung ist nicht anwendbar, wenn die Anklage innerhalb des angeklagten Straftatbestandes geändert werden soll (E. 3).
149 IV 128 (6B_101/2022) from 30. Januar 2023
Regeste: Art. 312 StGB; Amtsmissbrauch; besondere Nachteilsabsicht. Der vom Täter beabsichtigte Nachteil kann auch in der Zwangshandlung selbst liegen ungeachtet dessen, ob er ein legitimes Ziel verfolgt (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 1, insb. E. 1.3). |