BGE 107 IV 20 vom 16. Januar 1981

Datum: 16. Januar 1981

Artikelreferenzen:  Art. 43 StGB, Art. 44 StGB , Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB, Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, Art. 43 Ziff. 2 StGB, Art. 44 Ziff. 1 StGB, Art. 44 Ziff. 5 StGB, Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1 StGB

BGE referenzen:  118 IV 351, 120 IV 1, 129 IV 212 , 101 IV 271, 105 IV 88, 100 IV 13

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

107 IV 20


7. Auszug dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1981 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 StGB . Einweisung in eine Trinkerheilanstalt unter Aufschub des Strafvollzuges.
Längere Freiheitsstrafen, bei denen das Maximum des Anstaltsaufenthalts von zwei Jahren ( Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB ) nicht einmal zwei Dritteln der Strafzeit gleichkommt, sind nur ausnahmsweise zwecks stationärer Trinkerbehandlung auszusetzen, sofern nämlich von dieser Massnahme ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich durch den Vollzug der Freiheitsstrafe mit ambulanter Behandlung von vornherein nicht erreichen lässt (E. 5b, c).

Sachverhalt ab Seite 21

BGE 107 IV 20 S. 21

A.- Mit Urteil vom 31. Januar 1980 hat das Geschwornengericht des III. Bezirks des Kantons Bern S. wegen qualifizierter Unzucht mit Kindern zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und gleichzeitig in Anwendung von Art. 44 Ziff. 1 StGB verfügt, dass während des Strafvollzuges und im Anschluss an die Entlassung eine geeignete ambulante, durch den Anstaltspsychiater zu bestimmende Massnahme zur Behandlung der Trunksucht durchzuführen sei.

B.- Gegen dieses Urteil führt S. Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus und die Anordnung einer ambulanten Behandlungsmassnahme seien aufzuheben, die Sache sei zur Ausfällung einer kürzern Zuchthausstrafe und zur Anordnung der Einweisung in eine Trinkerheilanstalt bei gleichzeitigem Aufschub der Strafe an die Kriminalkammer zurückzuweisen.

C.- Eine Vernehmlassung wurde nicht eingeholt.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

3. Nach den psychiatrischen Experten ist der Beschwerdeführer ein chronischer Trinker und es muss angenommen werden, dass seine Delikte mit der Trunksucht im Zusammenhang stehen. Sowohl im angefochtenen Urteil als auch in der Beschwerdebegründung wird davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die strafrechtliche Anordnung einer Massnahme im Sinne von Art. 44 StGB erfüllt sind. Streitig ist lediglich, welche der nach dieser Bestimmung dem Richter zur Verfügung stehenden Lösungen im vorliegenden Fall angezeigt ist.

4. a) Die Vorinstanz legt in zutreffender Weise dar, dass das Strafgesetzbuch in Art. 44 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 43
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Ziff. 2 für die Behandlung Trunksüchtiger drei Möglichkeiten vorsieht:
- stationäre Behandlung in einer geeigneten Anstalt (Trinkerheilanstalt oder, wenn nötig, andere Heilanstalt) unter Aufschub des Strafvollzugs;
- ambulante Behandlung des Täters in Freiheit unter Aufschub des Strafvollzuges;
- Vollzug der Strafe und ambulante Behandlung während des Strafvollzuges, nötigenfalls auch Weiterführung der Behandlung während der Probezeit bei bedingter Entlassung.
b) Nach dem seit 1. Juli 1971 in Kraft stehenden Wortlaut der Art. 43 und der Art. 44 StGB wird der Aufschub des Strafvollzugs zwecks ambulanter oder stationärer Behandlung durch die Art und Dauer der ausgefällten Freiheitsstrafe in keinem Fall formell ausgeschlossen. Die frühere Fassung von Art. 44 StGB erlaubte die (damals dort allein vorgesehene) Einweisung in eine Trinkerheilanstalt nur bei Verurteilung zu Gefängnis oder Haft, nicht aber neben bzw. "an Stelle" einer Zuchthausstrafe. Mit der Neuordnung, welche die Möglichkeit ambulanter Behandlung mit oder ohne Aufschub des Strafvollzuges einführte, hat der Gesetzgeber auf den allgemeinen Ausschluss der zu Zuchthaus Verurteilten von der Anwendung des Art. 44 StGB verzichtet. So kann heute mit einer Zuchthausstrafe die ambulante Behandlung (während des Strafvollzuges und nach bedingter Entlassung) verbunden werden. Eine ambulante oder stationäre Behandlung unter Aufschub des Strafvollzugs ist sogar bei Verurteilung zu einer langen Zuchthausstrafe nicht von vornherein zwingend ausgeschlossen; der Wortlaut des Gesetzes lässt - unabhängig von der Schwere der verhängten Strafe - grundsätzlich stets alle Möglichkeiten einer Behandlung nach Art. 44 StGB offen. Es ist Sache des Richters, in diesem weiten gesetzlichen Rahmen eine Rechtsprechung zu entwickeln, welche das in den Art. 43/44 StGB dominierende Resozialisierungsziel zum Tragen bringt, aber auch dem fundamentalen Gesichtspunkt einer rechtsgleichen, gerechten Beurteilung der Straftäter die gebührende Beachtung schenkt.
c) Die bisherige Praxis hatte sich vor allem mit der Frage zu befassen, nach welchen Kriterien ein Aufschub des Strafvollzuges zwecks ambulanter Behandlung anzuordnen sei. Das Bundesgericht hat - unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte
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der einschlägigen Bestimmung - entschieden, dass der sofortige Strafvollzug in Verbindung mit der ambulanten Behandlung die Regel bilden müsse und dass der Strafvollzug nur aufgeschoben werden soll, wenn der sofortige Vollzug den Erfolg ambulanter Behandlung in Frage stelle ( BGE 100 IV 13 E. 1 und 202 E. 2). In BGE 101 IV 271 E. 1 und 358 sowie BGE 105 IV 88 E. 2 wurde diese Rechtsprechung bestätigt und dahin präzisiert, der Aufschub des Vollzuges der Freiheitsstrafe sei nur begründet, wenn der Sachrichter zur Überzeugung gelange, dass die wirklich vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde (zustimmend Rehberg in ZStr. 93, 1977, S. 182 ff.). In diesen Präjudizien ist auch darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit des Strafaufschubs zwecks ambulanter Behandlung nicht dazu missbraucht werden dürfe, den Vollzug der Strafe zu umgehen oder ihn auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben ( BGE 101 IV 271 E. 1, BGE 105 IV 88 ).

5. Im angefochtenen Urteil überträgt das Geschwornengericht die vom Bundesgericht hinsichtlich des Strafaufschubs zwecks ambulanter Behandlung entwickelten Richtlinien auf die Frage der Anordnung einer stationären Behandlung (welche ex lege stets den Aufschub des Strafvollzugs zur Folge hat). Eine solche Berücksichtigung analoger Kriterien bei der Entscheidung, ob die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt angezeigt sei, erscheint als durchaus sachgerecht.
Dabei dürften folgende Überlegungen wegleitend sein:
a) Soweit eine Freiheitsstrafe in Frage steht, die nach Art und Dauer durch einen Aufenthalt in der Trinkerheilanstalt vermutlich als abgegolten erscheinen dürfte, wird der Richter die Einweisung anordnen, sobald von dieser Massnahme ein besserer oder mindestens gleicher Resozialisierungserfolg erwartet werden darf wie vom sofortigen Vollzug der Strafe.
b) Längere Freiheitsstrafen, bei denen das Maximum des Anstaltsaufenthaltes von zwei Jahren ( Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB ) nicht einmal zwei Dritteln der Strafzeit gleichkommt, sind nur dann zwecks stationärer Trinkerbehandlung auszusetzen, wenn die Erfolgsaussichten besonders günstig erscheinen und vom Strafvollzug verbunden mit ambulanter Behandlung nicht ungefähr der gleiche Erfolg erwartet werden darf. Die Einweisung in die Trinkerheilanstalt soll nicht als Abwehr
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des Strafvollzuges missbraucht werden können, wenn sich das Behandlungsziel etwa in gleicher Weise auch durch Vollzug der Freiheitsstrafe (mit ambulanter Behandlung) erreichen lässt. Art. 44 StGB bezweckt nicht eine Privilegierung der Trunksüchtigen gegenüber andern Straftätern.
c) Je länger die Strafe, desto grösser ist die Gefahr, dass die Anstaltseinweisung vom Betroffenen nur angestrebt wird, um eine mildere (kürzere) Sanktion zu erreichen, auch wenn der sofortige Strafvollzug einer wirksamen Behandlung der Trunksucht keineswegs entgegensteht. Die Anstaltseinweisung gemäss Art. 44 StGB scheint allerdings nach dem Gesetzestext weitgehend unbedenklich zu sein, weil der Richter stets die Möglichkeit hat, nach der Massnahme noch einen Teil der Strafe zu vollziehen ( Art. 44 Ziff. 5 StGB ). Aus pädagogischtherapeutischen Gründen dürfte jedoch bei erfolgreicher Behandlung ein nachträglicher Vollzug der Strafe in der Regel ausser Betracht fallen (vgl. Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1 StGB ). Bei Erfolglosigkeit des Anstaltsaufenthaltes wird vom nachträglichen Vollzug einer aufgeschobenen Freiheitsstrafe selten eine positive Wirkung zu erwarten sein. Bei Freiheitsstrafen von mehreren Jahren Dauer, welche durch eine stationäre Trinkerbehandlung nicht in befriedigender Weise "kompensiert" sein können, dürfte daher die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt unter Aufschub des Strafvollzuges nur ganz ausnahmsweise in Frage kommen, sofern von dieser Massnahme ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe von vornherein nicht erreichen lässt. Wenn auch der Gesetzgeber dem Richter nach dem geltenden Recht in dieser Beziehung keine starren Schranken setzt, so erscheint es aus den dargelegten Gründen doch geboten, bei schweren Strafen mit der Anwendung von Behandlungsmassnahmen sehr zurückhaltend zu sein und einen Aufschub des Strafvollzugs nur Platz greifen zu lassen, falls eine sofortige Behandlungsmassnahme gute Resozialisierungschancen bietet, welche durch den Vollzug der Freiheitsstrafe klarerweise entscheidend vermindert oder zerstört würden.

6. Im angefochtenen Urteil hat sich die Vorinstanz im wesentlichen an diese Grundgedanken gehalten. Sie würdigte aufgrund der Äusserungen der psychiatrischen Experten die Erfolgsaussichten einer stationären Behandlung und prüfte anderseits die Möglichkeiten und Erfolgschancen einer ambulanten
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Behandlung während des Strafvollzugs und einer allfälligen Probezeit. Unter Bezugnahme auf die positive Wirkung einer 1976/1977 durchgeführten ambulanten Behandlung (Antabus-Kur) kam das Geschwornengericht zum Schluss, ambulante Behandlung von S. während und nach dem Strafvollzug könne gleich erfolgversprechend sein wie eine stationäre Behandlung in einer Trinkerheilanstalt. Diese entscheidende Schlussfolgerung ist sachlich begründet und überschreitet den dem Sachrichter bei der vergleichenden prognostischen Beurteilung verschiedener Sanktionen zustehenden Ermessensspielraum nicht.
Nach dem vorstehenden allgemeinen Erwägungen liesse sich bei einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt gemäss Art. 44 StGB nur vertreten, wenn triftige Gründe dafür sprächen, dass diese Massnahme eine Resozialisierungserfolg zu erzielen vermag, wie er vom Strafvollzug mit ambulanter Behandlung von vornherein nicht erwartet werden darf. Für einen solchen klaren Vorrang nach den objektiv bewerteten Erfolgsaussichten fehlt jeder konkrete Anhaltspunkt.
Das Geschwornengericht hat somit durch seine Wahl der Sanktion den Art. 44 StGB nicht verletzt.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

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