BGE 116 II 295 vom 8. Mai 1990

Datum: 8. Mai 1990

Artikelreferenzen:  Art. 47 OR, Art. 30 AHVG, Art. 8 BVG, Art. 16 BVG , Art. 8 Abs. 1 BVG, Art. 136 lit. b OG, Art. 30 Abs. 1 und 2 AHVG, Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG, Art. 13 AHVG, Art. 5 BVV 2, Art. 4 BVV 2

BGE referenzen:  89 II 232, 98 II 129, 122 III 53, 123 III 10, 123 III 115, 123 III 306, 126 III 41, 126 II 237, 129 IV 149, 129 III 135, 131 III 360, 132 III 321, 132 II 117, 145 III 225, 147 III 73 , 113 II 347, 99 II 217, 89 II 232, 91 II 427, 113 II 350, 113 II 349, 115 II 32, 98 II 129, 113 II 350, 113 II 349, 115 II 32, 98 II 129

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

116 II 295


52. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Mai 1990 i.S. X. gegen Y. (Berufung)

Regeste

Invaliditätsschaden; Schadensberechnung; Genugtuung.
1. Berechnung des Schadens infolge Erwerbsausfalls:
a) massgebliches Jahreseinkommen (E. 3a);
b) Kapitalisierung (E. 3c);
c) Einbezug der Arbeitgeberbeiträge an AHV und Pensionskasse (E. 4).
2. Bemessung der Genugtuung (E. 5). Ist von den am Verletzungstag oder von den am Urteilstag geltenden Ansätzen auszugehen? (E. 5b).

Sachverhalt ab Seite 295

BGE 116 II 295 S. 295

A.- X. erlitt als Folge einer Operation, bei welcher dem Chirurgen Dr. Y. ein Kunstfehler unterlaufen war, eine irreversible Schädigung der Muskulatur des linken Beines. Seit dem 31. Dezember 1978 übt er seinen Beruf als Elektromonteur wegen Beinschmerzen nur noch halbtags aus. Der Haftpflichtversicherer von Dr. Y., der mit Schreiben vom 22. November 1979 dessen Verantwortlichkeit für die Folgen der Operation anerkannt hatte,
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bezahlte X. eine "Invaliditätsvergütung" von Fr. 436'500.-- und eine Genugtuungssumme von Fr. 20'000.--. X. gab sich mit den Versicherungsleistungen von insgesamt Fr. 456'500.-- nicht zufrieden. Dr. Y. lehnte Mehrleistungen ab.

B.- Am 6. März 1984 klagte X. beim Appellationshof des Kantons Bern gegen Dr. Y. auf Bezahlung eines gerichtlich zu bestimmenden Betrages von über Fr. 8'000.-- nebst Zins, welchen Antrag er in der Gerichtsverhandlung dahingehend präzisierte, dass der Beklagte zur Bezahlung von Fr. 650'000.-- zu verurteilen sei. Der Appellationshof schützte die Klage mit Urteil vom 29. Juni 1989 im Umfang von Fr. 300'000.-- und wies sie im Mehrbetrag ab.

C.- Das Bundesgericht heisst die vom Kläger eingereichte Berufung teilweise gut und verurteilt den Beklagten, dem Kläger Fr. 365'000.-- zu bezahlen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. a) Die Vorinstanz berechnet den Erwerbsausfall des Klägers für die Zeit seit dem Schadensbeginn bis zum Urteilstag konkret. Sie stellt fest, dass der Kläger im Jahre 1980 ein Bruttojahreseinkommen von Fr. 45'000.--, im Jahre 1985 ein solches von 54000.-- bis 56'400.-- hätte erzielen können, schätzt den hypothetischen Bruttoverdienst für das Jahr 1988 auf Fr. 61'000.-- und geht demgemäss für die Schadensberechnung von einem jährlichen Durchschnittseinkommen von Fr. 55'000.-- aus. Insoweit ist ihr Urteil unangefochten geblieben. Der Kläger rügt jedoch, dass der Appellationshof dasselbe jährliche Durchschnittseinkommen von Fr. 55'000.-- auch der Schadensermittlung für die Zeit nach dem Urteilstag zugrunde legt. Seiner Ansicht nach wäre hier auf den zum Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuellen Jahresverdienst, mithin auf das für 1988 geschätzte Einkommen von Fr. 61'000.-- abzustellen. Der Beklagte äussert sich in seiner Berufungsantwort ebenfalls dahin, dass vom aktuellen Bruttojahreslohn auszugehen sei.
aa) Den künftigen Erwerbsausfall des Geschädigten hat der Richter aufgrund statistischer Werte zu schätzen. Dabei hat er nach schweizerischer Rechtsauffassung soweit möglich die konkreten Umstände des zu beurteilenden Falles zu berücksichtigen ( BGE 113 II 347 E. a mit Hinweisen). Das gilt auch für das hypothetische Einkommen des Geschädigten, das der Schadensberechnung
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zugrunde gelegt wird. Bei dessen Ermittlung hat daher die konkrete Einkommenssituation des Betroffenen vor der Verletzung als Anhalts- und Ausgangspunkt zu dienen ( BGE 99 II 217 E. 3c; BGE 89 II 232 ). Das heisst jedoch nicht, dass sich der Richter mit der Feststellung des bisherigen Verdiensts begnügen dürfte; massgebend ist vielmehr, was der Geschädigte in der Zukunft jährlich verdient hätte (STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 4. Aufl. 1989, S. 242 Rz. 686). Das hypothetische künftige Durchschnittseinkommen aber lässt sich realistisch einzig in der Weise bestimmen, dass zunächst das Einkommen ermittelt wird, das der Geschädigte ohne die Verletzung gegenwärtig, d.h. zum Zeitpunkt der Urteilsfällung erzielt hätte, und sodann auch die zu erwartenden künftigen Reallohnsteigerungen mitberücksichtigt werden (vgl. BGE 91 II 427 f. E. 4b).
bb) Gegen diese Grundsätze verstösst der Appellationshof, wenn er statt vom aktuellen Jahresverdienst, von einem Mittelwert zwischen diesem und dem Verdienst des Klägers vor dem Schadenseintritt ausgeht. Die vorinstanzliche Schadensberechnung ist daher insofern zu berichtigen und der Schadensberechnung in Übereinstimmung mit der Auffassung beider Parteien statt ein Jahreseinkommen von Fr. 55'000.-- ein solches von Fr. 61'000.-- zugrunde zu legen; dass darüber hinaus noch zu erwartende künftige Reallohnsteigerungen zu berücksichtigen seien, macht der Kläger nicht geltend.
(...)
c) Für die Kapitalisierung des künftigen Erwerbsausfalls ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich die Tafel 20 von STAUFFER/SCHAETZLE massgebend, die auf der Annahme einer durchschnittlichen, über das 65. Altersjahr hinausgehenden Aktivität beruht. Der Appellationshof hat demgegenüber die Tafel 18 angewendet und den Ausfall ausgehend vom Alter des Klägers am Urteilstag - 47 Jahre und zwei Monate - und von einem Endalter von 65 Jahren mit einem Faktor von 12,21 kapitalisiert. Da der Kläger selbst den gleichen Ansatz in Anschlag bringt, hat - zufolge der Bindung an die Parteianträge ( Art. 136 lit. b OG ) - auch das Bundesgericht von diesem Kapitalisierungsfaktor auszugehen. Damit ergibt sich ein kapitalisierter Schadensbetrag von Fr. 372'405.-- (Fr. 30'500.-- x 12,21).

4. a) In die Berechnung des Schadens sind nach der Rechtsprechung auch die die Höhe der künftigen Rentenansprüche mitbeeinflussenden, zufolge verminderter Erwerbstätigkeit aber
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entfallenden Arbeitgeberbeiträge an AHV und Pensionskasse einzubeziehen ( BGE 113 II 350 ). Dass der Appellationshof dies nicht beachtet hat, rügt der Kläger zu Recht. Für die Kapitalisierung ist die vom Kläger beantragte Anwendung der Tafel 18 von STAUFFER/SCHAETZLE mit einem Endalter von 65 Jahren hier in jedem Fall richtig, da ab diesem Alter die entsprechenden Beiträge nicht mehr rentenbildende Funktion, sondern bloss noch die Wirkung von Solidaritätsbeiträgen haben (vgl. Art. 30 Abs. 1 und 2 AHVG ; BBl 1976 III S. 23 f.; ZAK 1978, S. 386; ZAK 1982, S. 17), was in BGE 113 II 349 /350 offensichtlich übersehen wurde.
Der Beklagte wendet gegen die Einbeziehung der Arbeitgeberbeiträge an AHV und Pensionskasse ein, der Kläger habe schon vor dem schädigenden Ereignis die Absicht geäussert, vorzeitig nach Spanien zurückzukehren, in welchem Fall er ohnehin nicht in den vollen Genuss der Altersvorsorge gekommen wäre. Dieser Einwand findet indessen in den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz keine Stütze, weshalb darauf nicht einzutreten ist ( Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG ).
b) Entgegen der Auffassung des Klägers sind die Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers allerdings nicht voll, sondern bloss insoweit in die Schadensberechnung einzubeziehen, als sie rentenbildende Funktion haben.
aa) Im Bereich der 1. Säule sind daher nur die eigentlichen AHV-Beiträge zu berücksichtigen, nicht dagegen die Risikoprämien der IV und der AlV sowie die Beiträge nach Erwerbsersatzordnung. Die AHV-Beiträge des Arbeitgebers betragen 4,2% ( Art. 13 AHVG , SR 831.10). Der massgebende Jahresbeitrag beläuft sich im vorliegenden Fall somit auf Fr. 1'281.-- (4,2% von Fr. 30'500.--), der kapitalisierte Schadensbetrag auf Fr. 15'641.-- (Fr. 1'281.-- x 12,21).
bb) Im Bereich der 2. Säule verlangt der Kläger die Anrechnung der - minimalen - Altersgutschriften nach Art. 16 BVG (SR 831.40) von paritätisch 10% oder arbeitgeberseitig 5%. Freiwillige höhere Beiträge werden nicht geltend gemacht. Allerdings ist zu beachten, dass die rentenbildenden Beiträge nicht auf dem gesamten, sondern gemäss Art. 8 Abs. 1 BVG bloss auf dem sogenannten koordinierten Lohn berechnet werden. Dieser beläuft sich bei einem Jahreseinkommen von Fr. 61'000.-- auf Fr. 36'000.-- (Differenz zwischen Fr. 18'000.-- und Fr. 54'000.-- nach Art. 8 Abs. 1 BVG bzw. Art. 5 BVV 2 , SR 831.441.1) und reduziert sich zufolge der halben IV-Rente des Klägers auf die Hälfte, d.h. auf
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Fr. 18'000.-- ( Art. 4 BVV 2 ). Entsprechend sind bloss 5% dieses Betrages oder Fr. 900.-- zu kapitalisieren, was bei einem Faktor von 12,21 einen Schadensbetrag von Fr. 10'989.-- ergibt.

5. Der Appellationshof hat dem Kläger einen Genugtuungsanspruch von Fr. 20'000.-- zugestanden. Der Kläger hält diesen Betrag für zu tief angesetzt und verlangt eine Genugtuung von Fr. 40'000.--.
a) Die Festlegung der Höhe einer Genugtuung beruht auf richterlichem Ermessen. Ob der kantonale Richter sein Ermessen richtig gehandhabt hat, ist an sich eine im Berufungsverfahren überprüfbare Rechtsfrage. Das Bundesgericht beachtet jedoch praxisgemäss, dass dem Sachrichter ein eigener und breiter Ermessensspielraum zusteht ( BGE 115 II 32 E. 1b mit Hinweisen). Davon, dass die Vorinstanz ihr Ermessen missbraucht oder überschritten hätte, kann im vorliegenden Fall keine Rede sein. Dass den Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur "sein Los besonders hart trifft" und dass er zeitlebens Schmerzen haben wird, ist dem Appellationshof nicht entgangen. Er hat für die Bemessung der Genugtuung überdies eine Reihe von Entscheiden in ähnlich gelagerten Fällen zum Vergleich herangezogen, vor deren Hintergrund der Betrag von Fr. 20'000.-- auch bei Berücksichtigung des geringen Alters des Klägers und des erheblichen Verschuldens des Beklagten durchaus im Rahmen des Angemessenen bleibt.
b) Der Kläger macht weiter geltend, der Appellationshof sei zu Unrecht von den Ansätzen zur Verletzungszeit ausgegangen und habe nicht berücksichtigt, dass die Genugtuungssummen in den letzten zehn Jahren eine massive Entwicklung nach oben erfahren hätten.
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid vom 9. Mai 1972 i.S. Tonezzer (teilweise publiziert in BGE 98 II 129 ff.) für die Bemessung der Genugtuung die Ansätze angewendet, die zur Zeit der Verletzung galten (JT 1973 I 470 Nr. 72). In der Lehre ist kritisiert worden, dass damit den Geschädigten der Nachteil der inzwischen eingetretenen Teuerung treffe (SZÖELLÖESY, ZBJV 112/1976, S. 31; BREHM, Berner Kommentar, N. 92 zu Art. 47 OR ). BREHM (a.a.O., N. 94 zu Art. 47 OR ) schlägt daher vor, dem Geschädigten entweder zusätzlich zu der nach den Ansätzen am Verletzungstag bemessenen Summe einen Zinsanspruch zuzugestehen oder eine Genugtuung nach den Ansätzen am Urteilstag ohne Zins zuzusprechen.
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Wieweit dem zu folgen ist, kann für den vorliegenden Fall offenbleiben, da dem Kläger die Genugtuung von Fr. 20'000.--, die ihm der Haftpflichtversicherer des Beklagten ausbezahlt hat, bereits verhältnismässig kurze Zeit nach dem Schadenseintritt zur Verfügung stand. Die Frage eines Teuerungsverlustes stellt sich deshalb nicht. Damit aber bestünde für eine Bemessung der Genugtuung nach den Ansätzen am Urteilstag sowenig Anlass wie für die Zusprechung eines Zinses; auf Zinsforderungen hat der Kläger denn auch ausdrücklich verzichtet. Die Auffassung des Appellationshofs, die Genugtuung sei nach den Ansätzen zur Verletzungszeit zu bemessen, verstösst nicht gegen Bundesrecht.

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