Urteilskopf
121 III 204
43. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Juli 1995 i.S. H. gegen Kantons Basel-Stadt (Zivilklage)
Regeste
Art. 429a ZGB
; Verhältnis der bundesrechtlichen zum kantonalrechtlichen Staatshaftungsbestimmungen im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung.
Entscheidet das Bundesgericht als einzige Instanz über eine Zivilklage, haben die Parteien gemäss
Art. 6 Abs. 1 EMRK
Anspruch auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung. Durch ausdrückliche Erklärung können sie allerdings darauf verzichten (E. 1).
Staatshaftungsansprüche wegen widerrechtlicher fürsorgerischer Freiheitsentziehung beruhen ausschliesslich auf
Art. 429a ZGB
. Für die Anwendung kantonalen Staatshaftungsrechts bleibt damit kein Raum, auch wenn es im Einzelfall für den Ansprecher günstigere Haftungsbedingungen (z.B. eine längere Verjährungsfrist) vorsieht (E. 2).
A.-
Am 10. Dezember 1992 wurde H. gerichtsärztlich in die Psychiatrische Universitätsklinik des Kantons Basel-Stadt eingeliefert. Mit Schreiben vom 11. Dezember 1992 ersuchte sie die Psychiatrische Kommission Basel-Stadt um ihre Entlassung. Nachdem H. am 17. Dezember 1992 vom ärztlichen Kommissionsmitglied in der Psychiatrischen Universitätsklinik besucht worden war und die Kommission eine weitere fürsorgerische Freiheitsentziehung nicht mehr für gerechtfertigt erachtete, wurde H. gleichentags aus der Klinik entlassen. Das Entlassungsverfahren wurde mit Entscheid der Psychiatrischen Kommission vom 23. Dezember 1992 erledigt.
B.-
Am 12. Dezember 1994 hat H. im Rahmen eines Direktprozesses beim Bundesgericht eine Forderungsklage gegen den Kanton Basel-Stadt eingereicht. Sie beantragt im wesentlichen, der Kanton Basel-Stadt sei zu verpflichten, ihr Fr. 16'095.-- zuzüglich Zins zu 5% seit dem 17.12.92 zu bezahlen. Der Kanton Basel-Stadt beantragt, die Klage zufolge Verjährung abzuweisen.
C.-
Die Parteien haben auf eine mündliche Vorbereitungsverhandlung verzichtet. In der Folge haben sie auch ausdrücklich auf die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung verzichtet.
Aus den Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht beurteilt als einzige Instanz zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen einem Kanton und Privaten, wenn eine Partei es rechtzeitig verlangt und der Streitwert wenigstens Fr. 8'000.-- beträgt (
Art. 42 Abs. 1 OG
).
a) Diese von Amtes wegen zu prüfenden Voraussetzungen (
Art. 3 Abs. 1 BZP
) sind vorliegend erfüllt. Ungeachtet davon, ob der geltend gemachte Haftungsanspruch auf Bundesrecht (
Art. 429a ZGB
) oder kantonalem öffentlichem Recht (§§ 37 ff. Beamtengesetz des Kantons Basel-Stadt) beruht, handelt es sich um einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinn des Gesetzes (
BGE 107 Ib 155
E. 1). Sodann hat die Klägerin das Bundesgericht rechtzeitig im Sinn von
Art. 42 OG
angerufen, d.h. bevor für den gleichen Streitgegenstand die kantonale Gerichtsbarkeit in Anspruch genommen wurde (POUDRET/SANDOZ-MONOD, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Band II, N. 2.4 zu
Art. 42 OG
). Und schliesslich übersteigt der Streitwert den Betrag von Fr. 8'000.--. Aus diesen Gründen ist auf die Klage einzutreten.
b) Gemäss
Art. 6 Abs. 1 EMRK
hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache öffentlich gehört wird. Dies bedeutet, dass mindestens einmal ein Gericht eine öffentliche Verhandlung durchführen muss. Für den Fall, dass das Bundesgericht als einzige Instanz entscheidet, ist daher vor Bundesgericht eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zürich 1993, S. 260). Allerdings können die Parteien durch ausdrückliche Erklärung auf die Durchführung einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung verzichten (VILLIGER, a.a.O., S. 259; MIEHLSER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur EMRK, 1986, N. 333; je mit Hinweisen). Nachdem die Parteien auf Anfrage des Bundesgerichtes ausdrücklich auf die Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung verzichtet haben, erweist sich das Verfahren als spruchreif.
2.
Der Beklagte hält der klägerischen Schadenersatz- und Genugtuungsforderung im Gesamtbetrag von Fr. 16'095.-- die Einrede der Verjährung entgegen. Der geltend gemachte Staatshaftungsanspruch beruhe auf
Art. 429a ZGB
. Bezüglich dieser Staatshaftung gelte nach der
BGE 121 III 204 S. 207
Rechtsprechung des Bundesgerichtes eine Verjährungsfrist von einem Jahr seit dem Wegfall der freiheitsentziehenden Massnahme. Diese Frist sei abgelaufen, so dass die klägerische Forderung verjährt und die Klage daher abzuweisen sei. Demgegenüber macht die Klägerin geltend, dass sich die Verjährung nicht nach Bundesrecht, sondern nach dem Beamtengesetz des Kantons Basel-Stadt richte, dessen § 37 Abs. 1 eine Verjährungsfrist von zwei Jahren vorsehe. Für den Fall, dass Bundesrecht anwendbar sein sollte, sei gemäss
Art. 60 Abs. 2 OR
die längere strafrechtliche Verjährungsfrist massgebend.
a) Zunächst ist die Frage der massgebenden Haftungsgrundlage zu prüfen. Vor dem Inkrafttreten der Novelle zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung waren die Kantone befugt, den Bereich der sogenannten "administrativen Versorgung" zu regeln (BBl 1977 III, 8). Namentlich im Hinblick auf eine einheitliche Umsetzung von
Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK
wurde die fürsorgerische Freiheitsentziehung in
Art. 397a ff. ZGB
bundesrechtlich geregelt (BBl 1977 III, 17). Das Schwergewicht der bundesrechtlichen Regelung besteht in der Vereinheitlichung der materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Sowohl in den Materialien als auch in der Literatur wird einhellig die Ansicht vertreten, dass die materiellen Voraussetzungen abschliessend bundesrechtlich geregelt seien und nicht durch kantonales Recht ergänzt werden könnten (BBl 1977 III, 19 m.w.H.; NR Brosi, Berichterstatter, Sten.Bull. NR, 88. Jg., 1978, S. 745 f.; vgl. auch Votum Alder, a.a.O., S. 749; MATTMANN, Die Verantwortlichkeit bei der füsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg 1988, S. 52; KOLLER, Die fürsorgerische Freiheitsentziehung und das kantonale Verfahrensrecht, SJZ 78, 1982, S. 53 f.).
Im Rahmen der Regelung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung wurde in
Art. 429a ZGB
auch eine bundesrechtliche Haftungsbestimmung ins Gesetz eingefügt. Weder die Botschaft noch die Protokolle der parlamentarischen Beratungen äussern sich indessen dazu, ob
Art. 429a ZGB
eine abschliessend bundesrechtliche Regelung aufstelle, oder ob daneben Raum für kantonale Haftungsbestimmungen bestehe. Verschiedene Gründe sprechen jedoch dafür, dass es sich bei
Art. 429a ZGB
um eine abschliessende bundesrechtliche Regelung der Staatshaftung handelt. Einerseits bezweckt
Art. 429a ZGB
ähnlich wie die bundesrechtliche Umschreibung der Voraussetzungen für die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung eine gesamtschweizerisch
BGE 121 III 204 S. 208
einheitliche Regelung der Staatshaftung, die den Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 5 EMRK
genügt (BBl 1977 III 18; MATTMANN, a.a.O., S. 62 f.). Anderseits drängte sich angesichts der abschliessenden materiellrechtlichen Regelung des fürsorgerischen Freiheitsentzuges auch bezüglich der Haftungsfrage eine gesamtschweizerische Lösung auf, da unterschiedliche kantonale Staatshaftungsbestimmungen zu unbilligen und ungerechtfertigten Ungleichheiten geführt hätten, die durch eine bundesrechtliche Vereinheitlichung in
Art. 429a ZGB
vermieden wurden (MATTMANN, a.a.O., S. 60 m.w.H). Der Auffassung der Klägerin,
Art. 429a ZGB
stelle nur eine bundesrechtliche Minimalvorschrift dar, kann nicht gefolgt werden. Die von ihr angerufene Judikatur (VPB 50, 1986, Nr. 34) bezieht sich nur auf die Haftung des Zivilstandsbeamten nach
Art. 42 ZGB
. Im Unterschied zu dieser Bestimmung, die eine primäre Beamten- und lediglich eine subsidiäre Staatshaftung vorsieht, handelt es sich bei
Art. 429a ZGB
um eine zeitgemässe Staatshaftungsnorm, die eine ausschliessliche und kausale Staatshaftung statuiert. Die Klägerin geht auch fehl in der Annahme, dass sich nur ein einzelner Aspekt der Haftungsfrage - vorliegend die Verjährung - nach dem günstigeren kantonalen Recht richte, sind doch die Haftungsvoraussetzungen integral entweder nach kantonalem oder nach Bundesrecht zu beurteilen. Aus diesen Gründen ist
Art. 429a ZGB
die ausschliessliche Rechtsgrundlage für die Staatshaftung.
b) Nach Auffassung der Klägerin sind jedenfalls die Genugtuungsansprüche in Bezug auf die medikamentöse Zwangsbehandlung während der Dauer ihres Klinikaufenthaltes nach kantonalem Recht zu beurteilen, weil das Bundesrecht nur die Anordnung, nicht aber die Durchführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung regle.
Das Bundesgericht hat erkannt, dass die Bestimmungen zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung nur festlegen, unter welchen Voraussetzungen eine Person in eine Anstalt eingewiesen werden darf, während sie sich zur Art der Behandlung nicht äussern.
Art. 429a ZGB
erfasst daher nur den Entzug der Bewegungsfreiheit, nicht aber Eingriffe in die körperliche und psychische Integrität der betroffenen Person (
BGE 118 II 254
E. 6). Entgegen der Ansicht der Klägerin schliesst dies indessen nicht aus, dass
Art. 429a ZGB
im vorliegenden Fall auch für die Genugtuungsforderung massgebend ist, soweit sich diese auf die medikamentöse Behandlung bezieht. Oft drängt sich unmittelbar nach der Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme eine medikamentöse Behandlung zur Stabilisierung des Zustandes des Betroffenen auf. In diesem Fall stellt die Massnahme nicht eine
BGE 121 III 204 S. 209
selbständige Therapie im Hinblick auf eine Verbesserung des Zustandes der betroffenen Person dar, sondern dient deren Beruhigung. Sie steht insofern in engem Zusammenhang mit der Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Angesichts des kurzen Klinikaufenthaltes der Klägerin rechtfertigt es sich nicht, in bezug auf die beanstandete medikamentöse Behandlung von einer selbständigen Behandlung auszugehen. Vielmehr steht diese in direktem Zusammenhang mit der Anordnung und Durchführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Aus diesen Gründen erweist sich ausschliesslich
Art. 429a ZGB
als Rechtsgrundlage für die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung der Klägerin.
c) In bezug auf die Verjährung einer auf
Art. 429a ZGB
beruhenden Forderung hat das Bundesgericht in Einklang mit der Lehre erkannt, dass der Staatshaftungsanspruch binnen eines Jahres seit dem Hinfall der freiheitsentziehenden Massnahme verjährt (
BGE 116 II 407
; MATTMANN, a.a.O., S. 223 f.). Der Hinweis der Klägerin auf die längere strafrechtliche Verjährungsfrist gemäss
Art. 60 Abs. 2 OR
geht fehl. Eine strafbare Handlung im Sinn dieser Bestimmung liegt nur vor, wenn sowohl die objektive als auch die subjektive Seite des Straftatbestandes erfüllt sind (
BGE 106 II 213
E. 4; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Besonderer Teil, Band II/1, Zürich 1987, § 16 N. 385). Die Frage, ob allfällige strafbare Handlungen von Beamten dem Kanton überhaupt vorgehalten werden können (verneinend MATTMANN, a.a.O., S. 228), kann vorliegend offen gelassen werden, denn entgegen der Auffassung der Klägerin sind keine Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten der verantwortlichen Beamten zu erkennen. Abgesehen davon, dass sowohl die Freiheitsentziehung als auch die Behandlung der Klägerin durch eine gesetzliche Grundlage gedeckt und damit gerechtfertigt sind, wurde in keiner Art und Weise substantiiert, inwiefern der subjektive Tatbestand der behaupteten Delikte erfüllt sein soll. Die längere strafrechtliche Verjährungsfrist kann daher nicht zur Anwendung gelangen.
d) Nachdem die Klägerin am 17. Dezember 1992 aus der Psychiatrischen Universitätsklinik entlassen worden war, ist die einjährige Verjährung vor der Klageeinleitung am 14. Dezember 1994 eingetreten. Aufgrund einer entsprechenden Einrede des Beklagten hat das Bundesgericht die Verjährung zu berücksichtigen. Die Klage ist daher abzuweisen.