Urteilskopf
142 IV 329
44. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, A. und B. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_466/2015 vom 28. September 2016
Regeste
Art. 49 Abs. 2 StGB
; Zusatzstrafe bei ausländischen Strafurteilen; Bestimmung der Strafkompetenz bei Zusatzstrafen.
Eine Zusatzstrafe gemäss
Art. 49 Abs. 2 StGB
kann nur zu inländischen Entscheiden ausgesprochen werden (Änderung der Rechtsprechung; E. 1.4.1).
Die Strafkompetenz der Strafbehörden richtet sich im Rahmen von
Art. 49 Abs. 2 StGB
nach der zu erwartenden Zusatz- und nicht nach der hypothetischen Gesamtstrafe (E. 1.4.2).
A.
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X. am 22. Oktober 2014 wegen qualifizierten Raubes und Führens eines Motorfahrzeugs trotz Entzug des Ausweises zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten als Zusatzstrafe zu Urteilen des Landgerichts Freiburg (D) wegen Widerhandlungen gegen das deutsche Betäubungsmittelgesetz (45 Monate) und des Tribunal correctionnel de Mulhouse (F) wegen Fahren trotz Führerscheinentzugs (2 Monate).
Die von X. dagegen erhobene Berufung wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 30. März 2015 ab.
B.
X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Zusatzstrafe sei auf 13 Monate herabzusetzen; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen. A. und B. verzichten auf Vernehmlassungen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
1.4
Die Beschwerde erweist sich im Ergebnis als unbegründet. Zwar hätten die kantonalen Gerichte für die in der Schweiz begangenen Taten des qualifizierten Raubs und des Führens eines Motorfahrzeuges trotz Ausweisentzugs keine Zusatzstrafe aussprechen dürfen, sondern diese eigenständig beurteilen müssen. Dies führt vorliegend aber nicht zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides, da das Ausfällen einer Zusatzstrafe eine erhebliche Strafminderung und damit Privilegierung des Beschwerdeführers nach sich zieht und auf die ausgesprochene Strafe aufgrund des Verschlechterungsverbots nicht zu dessen Ungunsten zurückgekommen werden kann (vgl.
Art. 391 Abs. 2 StPO
).
1.4.1
Die Voraussetzungen für die Ausfällung einer Zusatzstrafe gemäss
Art. 49 Abs. 2 StGB
sind vorliegend nicht erfüllt. An der bisherigen Rechtsprechung, der die herrschende Lehre ohne Auseinandersetzung in der Sache folgt, eine Zusatzstrafe auch zu einem ausländischen Urteil ausgefällt werden kann, welches Taten betrifft, die nicht in den (räumlichen) Geltungsbereich des StGB fallen (
BGE 132 IV 102
E. 8.2 S. 105;
BGE 115 IV 17
E. II/5a/cc; statt vieler: CHRISTOF RIEDO, Retrospektive Intransparenz, Bemerkungen zu
Art. 49 Abs. 2 StGB
,
BGE 142 IV 329 S. 331
in: Droit pénal et diversités culturelles, Mélanges en l'honneur de José Hurtado Pozo, 2012, S. 344 mit zahlreichen Hinweisen), ist nicht festzuhalten. Eine Zusatzstrafe kann nur zu inländischen Urteilen ausgesprochen werden.
Art. 49 StGB
ist eine Strafzumessungsnorm, die - wie die übrigen Normen des StGB - nur zur Anwendung gelangt, wenn die zu beurteilende Straftat der schweizerischen Gerichtsbarkeit nach den Bestimmungen über den räumlichen Geltungsbereich unterliegt.
Art. 49 Abs. 2 StGB
soll gewährleisten, dass das in Abs. 1 verankerte Asperationsprinzip auch bei retrospektiver Konkurrenz zur Anwendung gelangt (vgl.
BGE 141 IV 61
E. 6.1.2 S. 67;
BGE 138 IV 113
E. 3.4.1 S. 115), erweitert hingegen den Anwendungsbereich des StGB nicht. Implizite Voraussetzung für eine Zusatzstrafe gemäss
Art. 49 Abs. 2 StGB
ist, dass für die bereits beurteilten und noch zu beurteilenden Delikte im Falle gleichzeitiger gerichtlicher Beurteilung eine Gesamtstrafe hätte ausgesprochen werden können (vgl.
BGE 142 IV 265
E. 2.3.2). Kommt jedoch eine gemeinsame gerichtliche Beurteilung und somit eine Gesamtstrafe nicht in Betracht, da die im Ausland begangenen Straftaten nicht in den (räumlichen) Geltungsbereich des StGB fallen, muss dies auch im Rahmen retrospektiver Konkurrenz gelten. Von einer vom Gesetzgeber nicht gewollten zufälligen Ungleichbehandlung schweizerischer und ausländischer Täter kann aufgrund der umfassenden gesetzlichen Regelung der schweizerischen Strafhoheit (vgl. u.a. Art. 3-7,
Art. 185 Ziff. 5,
Art. 260
ter
Ziff. 3,
Art. 264m StGB
;
Art. 19 Abs. 4 BetmG
[SR 812. 121]; Art. 116 Abs. 1 lit. a AuG [SR 142.20]) entgegen
BGE 115 IV 17
(E. II/5a/cc) keine Rede sein. Zudem kann auf die bereits in
BGE 127 IV 106
(E. 2e) angedeuteten Schwierigkeiten verwiesen werden, die sich bei einer Anwendung von
Art. 49 Abs. 2 StGB
auf Auslandsurteile ergeben können.
Neben dem Vorliegen der schweizerischen Gerichtsbarkeit setzt die Ausfällung einer Zusatzstrafe gemäss
Art. 49 Abs. 2 StGB
voraus, dass die frühere Tat durch eine inländische Strafbehörde (materiell) beurteilt wurde. Denn auch in Fällen sog. doppelter Strafbarkeit der früheren Tat (vgl. hierzu: JÜRG-BEAT ACKERMANN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 161 zu
Art. 49 StGB
; HANS SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. II, 4. Aufl. 1982, S. 82;
ders.
, ZBJV 1991 S. 52) übernimmt das Schweizer Gericht (respektive die Schweizer Strafbehörde) die im Ausland ausgesprochene Strafe nicht, sondern rechnet diese - soweit
BGE 142 IV 329 S. 332
vollzogen - auf die von ihm
auszusprechende
Strafe an (vgl. Art. 3 Abs. 2,
Art. 4 Abs. 2,
Art. 5 Abs. 3,
Art. 6 Abs. 4,
Art. 7 Abs. 5 StGB
). Dies setzt die eigene Beurteilung der früheren Tat durch eine inländische Behörde im Schuld- und Strafpunkt unter Einhaltung der prozessualen und materiellen Vorschriften voraus.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die kantonalen Gerichte hätten für die in der Schweiz begangenen Straftaten die von ihnen hierfür als angemessen erachtete Gesamtfreiheitsstrafe als eigenständige Strafe aussprechen müssen.
1.4.2
Durch das Ausfällen einer Zusatzstrafe von 22 Monaten hat das Strafgericht die ihm als Dreiergericht gesetzlich zustehende Strafgewalt von 5 Jahren nicht überschritten. Es liegt weder eine funktionale Unzuständigkeit (§ 35 Abs. 1 GOG/BS [SG 154.100]) noch eine Überschreitung der Strafkompetenz nach § 35 Abs. 2 Ziff. 2 GOG/BS vor. Das Bundesgericht hat in einem neuen Leitentscheid seine Rechtsprechung zur Zusatzstrafe gemäss
Art. 49 Abs. 2 StGB
präzisiert. Gesamt- und Zusatzstrafe bilden zwar infolge retrospektiver Konkurrenz eine gedankliche Einheit, sind aber selbstständige Strafen. Die Zusatzstrafe ist die infolge Asperation mit der Grundstrafe reduzierte Strafe für die neu zu beurteilenden Taten. Sie tritt zur Grundstrafe des rechtskräftigen Ersturteils hinzu und ergänzt diese. Die Strafgewalt des die Zusatzstrafe aussprechenden Gerichts ist auf die noch nicht beurteilte(n) Tat(en) beschränkt. Es darf im Rahmen retrospektiver Konkurrenz das rechtskräftige Urteil nicht aufheben und keine Gesamtstrafe für alle Straftaten aussprechen (
BGE 142 IV 265
E. 2.4.1 f.; vgl. auch: ACKERMANN, a.a.O., N. 129 f. zu
Art. 49 StGB
; je mit Hinweisen).
Die von den kantonalen Gerichten für die in der Schweiz begangenen Straftaten ausgesprochene Zusatzstrafe von 22 Monaten tritt als selbstständige Strafe zu den rechtskräftigen (ausländischen) Grundstrafen und liegt innerhalb der Strafkompetenz gemäss § 35 Abs. 2 Ziff. 2 GOG/BS.
1.4.3
Der Antrag des Beschwerdeführers, er sei zu einer Zusatzstrafe von 13 Monaten zu verurteilen, erweist sich bereits mangels Überschreitung der Strafkompetenz durch das erstinstanzliche Gericht als unbegründet. Eine allfällige funktionale Unzuständigkeit der Dreierkammer hätte entgegen seiner Ansicht nicht zu einer Reduzierung der Strafe, sondern zu neuer Entscheidung durch die in der Sache zuständige Kammer des Strafgerichts geführt. (...)