Urteilskopf
144 III 175
21. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG und Mitb. gegen D. Limited (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_417/2017 vom 14. März 2018
Regeste
Feststellungsinteresse bei einer negativen Feststellungsklage im Geltungsbereich des Lugano-Übereinkommens (LugÜ).
Das Rechtsschutzinteresse wird im LugÜ nicht geregelt, es bestimmt sich nach Landesrecht (E. 3).
Als Prozessvoraussetzung ist das Feststellungsinteresse dem Prozessrecht zuzuordnen und untersteht der lex fori (E. 4).
Offenlassung, ob das effet-utile-Prinzip ausserhalb des Regelungsbereichs des LugÜ bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen ist (E. 5.1).
Im internationalen Verhältnis ist das Interesse des Feststellungsklägers, bei bevorstehendem Gerichtsverfahren einen ihm genehmen Gerichtsstand zu sichern, als genügendes Rechtsschutzinteresse zu qualifizieren (E. 5.2-5.4).
Die A. AG mit Sitz in der Schweiz (Klägerin 1, Beschwerdeführerin 1) ist eine Dachholding. Die B. SA mit Sitz ebenfalls in der Schweiz (Klägerin 2, Beschwerdeführerin 2) und die C. Limited (Klägerin 3, Beschwerdeführerin 3) mit Sitz in Grossbritannien sind Tochtergesellschaften von ihr. Die Klägerin 2 stellt u.a. Uhren und Ersatzteile für Uhren und Uhrwerke her und vertreibt diese. Im Vereinigten Königreich und in Irland ist ausschliesslich die Klägerin 3 für den Vertrieb der klägerischen Produkte zuständig. Im Zuge der Einführung eines selektiven Vertriebssystems für Ersatzteile stellte der Konzern der Klägerinnen die Zusammenarbeit mit Grosshändlern nach Gewährung einer Übergangsfrist per 31. Dezember 2015 ein.
Die D. Limited mit Sitz in Grossbritannien (Beklagte, Beschwerdegegnerin) bietet als Grosshändlerin Ersatzteile für Uhren an. Bis 31. Dezember 2015 vertrieb sie auch solche für Uhren des klägerischen Konzerns. Mit Schreiben vom 16. März 2016 forderte sie die Klägerinnen auf, bis am 6. April 2016 die Wiederaufnahme der Belieferung zu bestätigen, andernfalls sie ohne weitere Ankündigung Klage einreichen werde. Dem Schreiben legte sie eine Eingabe "(Draft) Order" an den High Court of Justice in London bei. Auf Ersuchen der Klägerin 3 erstreckte die Beklagte die von ihr angesetzte Frist bis am 20. April 2016.
Am 19. April 2016 reichten die Klägerinnen eine negative Feststellungsklage beim Handelsgericht des Kantons Bern ein. Sie beantragten einerseits die Feststellung, dass sie keine Pflicht zur Belieferung der Beklagten mit Ersatzteilen für Produkte ihres Konzerns treffe, und andererseits, dass sie der Beklagten wegen der Beendigung der Belieferung nichts schulden. Mit Eingabe vom 29. April 2016 reichte die Beklagte ihrerseits beim High Court of Justice in London wegen Verletzung europäischen Kartellrechts Klage gegen die Klägerinnen ein.
Das Handelsgericht trat nicht auf die Klage ein, da es den Klägerinnen an einem rechtsgenüglichen Feststellungsinteresse fehle.
BGE 144 III 175 S. 177
Die Beschwerdeführerinnen machen in ihrer Beschwerde in Zivilsachen zunächst geltend, im Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens sei kein besonderes Feststellungsinteresse erforderlich. Falls doch, bestimme sich dieses nicht nach der lex fori, sondern nach der lex causae; daher sei englisches Recht anwendbar, das kein besonderes Feststellungsinteresse verlange. Aber auch bei einer Beurteilung nach der lex fori sei seit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung kein besonderes Feststellungsinteresse mehr erforderlich. Und selbst wenn vom Erfordernis eines besonderen Feststellungsinteresses auszugehen wäre, sei ein solches im vorliegenden internationalen Verhältnis gegeben.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zu neuer Behandlung an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
2.
In
BGE 136 III 523
erkannte das Bundesgericht, dass weder Art. 21 der damals noch einschlägigen Fassung des LugÜ von 1988 (AS 1991 2436; nachfolgend: LugÜ 1988; in der revidierten Fassung geregelt in
Art. 27 LugÜ
[SR 0.275.12]) noch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO; ABl. L 12 vom 16. Januar 2001 S. 1 ff.) regeln, ob für eine negative Feststellungsklage ein besonderes Rechtsschutzinteresse zu verlangen ist. Sie überliessen diese Frage den nationalen Rechten. Das nationale Verfahrensrecht dürfe ein besonderes Rechtsschutzinteresse für eine (negative) Feststellungsklage verlangen. Die Vorinstanz habe Art. 21 LugÜ 1988 nicht verletzt, indem sie das blosse Interesse des Schuldners, einen Gerichtsstand zu fixieren ("forum running"), als nicht hinreichendes Rechtsschutzinteresse erachtet habe. Die Beschwerde zielt auf eine Änderung dieser Rechtsprechung.
Nach konstanter Rechtsprechung muss sich eine Praxisänderung auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue
BGE 144 III 175 S. 178
Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten (
BGE 127 II 289
E. 3a S. 292 f.;
BGE 132 III 770
E. 4 S. 777;
BGE 135 III 66
E. 10 S. 79; Urteil 5A_324/2016 vom 1. Dezember 2016 E. 2).
3.1
Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, dass das nationale Recht entgegen
BGE 136 III 523
im Anwendungsbereich des LugÜ kein besonderes Rechtsschutzinteresse für eine negative Feststellungsklage verlangen dürfe. Denn das LugÜ gehe vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Leistungsklage und der spiegelbildlichen negativen Feststellungsklage aus. Inhaltliche Voraussetzungen an die Zulässigkeit der negativen Feststellungsklage würden diese Gleichwertigkeit unzulässigerweise einschränken. Sie würden den (angeblich) Geschädigten unzulässig privilegieren, denn er habe die Wahl, ob er am allgemeinen oder an einem besonderen Gerichtsstand klagen wolle, während der (angebliche) Schädiger sich nicht auf
Art. 5 Ziff. 3 LugÜ
berufen könnte. Das LugÜ sei aber bezüglich Gläubiger und Schuldner grundsätzlich neutral. Auch aus dem von der Vorinstanz zitierten Urteil des EuGH vom 25. Oktober 2012 C-133/11
Folien Fischer AG und Fofitec AG
lasse sich nicht ableiten, dass das LugÜ die Frage des Rechtsschutzinteresses
nicht regle
.
3.2
Im Urteil
Folien Fischer
hielt der EuGH fest, dass im Stadium der Prüfung der internationalen Zuständigkeit nach EuGVVO "weder die Zulässigkeit noch die Begründetheit der negativen Feststellungsklage nach den Vorschriften des nationalen Rechts" zu prüfen sind, "sondern nur die Anknüpfungspunkte mit dem Staat des Gerichtsstands ermittelt" werden (Randnr. 50). Im selben Urteil hielt der EuGH auch fest, soweit das Rechtsschutzinteresse in Frage gestellt werde, sei darauf hinzuweisen, dass "allein das vorlegende Gericht [...] für die Auslegung und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig" sei (Randnr. 24 i.V.m. Randnr. 22). Das Bundesgericht ist nicht an die Rechtsprechung des EuGH gebunden, hat sie aber zu berücksichtigen, das heisst sich damit auseinanderzusetzen (Art. 1 Protokoll 2 zum LugÜ; vgl. auch TANJA DOMEJ, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ], Handkommentar, Dasser/Oberhammer[Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 9 ff. zu Art. 1 Protokoll 2 LugÜ; KROPHOLLER/VON HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, N. 111 Einl EuGVO). Eine eigentliche Auseinandersetzung ist vorliegend
BGE 144 III 175 S. 179
kaum möglich, da es sich um eine blosse Aussage ohne weitere Begründung handelt. Immerhin ist zur Kenntnis zu nehmen, dass der EuGH davon ausgeht, dass die EuGVVO bloss die Zuständigkeit regelt, die Frage des Feststellungsinteresses hingegen dem nationalen Recht überlässt. Dass die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln nicht Gegenstand dieser Normen ist und die (geregelte) Zuständigkeit deshalb klar von den (übrigen) Zulässigkeitsvoraussetzungen von Klagen zu trennen ist, hielt der EuGH auch bereits früher fest (etwa Urteil des EuGH vom 15. Mai 1990 C-365/88
Kongress Agentur Hagen GmbH
, Randnr. 17). Das Bundesgericht begründete die gleiche Auffassung zum LugÜ in
BGE 136 III 523
E. 6.5 S. 527 zwar (ebenfalls nur) mit einem einzigen Zitat (SCHNYDER/LIATOWITSCH, Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl. 2006, S. 120 Rz. 339), doch wird diese Auffassung von einer Mehrheit der Lehre geteilt (SCHWANDER/FÜLLEMANN, Anmerkung zu
BGE 136 III 523
, AJP 2011 S. 1243; ALEXANDER R. MARKUS, Internationales Zivilprozessrecht, 2014, S. 451 Rz. 1686 [mit Hinweis, dass in der LugÜ-Revision diskutiert worden sei, ob das Feststellungsinteresse international normiert werden solle, was dann aber nicht der Fall gewesen sei]; RAMON MABILLARD, in: Basler Kommentar, Lugano-Übereinkommen, 2. Aufl. 2016, N. 37 f. zu
Art. 27 LugÜ
; GION JEGHER, Rechtshängigkeit in der Schweiz nach Art. 21 Lugano-Übereinkommen, IPRax 2000 S. 146; NINO SIEVI, Die negativen Feststellungsklagen des schweizerischen Rechts im Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens, 2017, Rz. 348 ff.; PETER-ANDREAS BRAND, Deliktschadensersatz und Torpedo-Klagen. Ein Beitrag zum Prioritätsprinzip nach Art. 29 Abs. 1 EuGVVO am Beispiel des Kartellschadensersatzes, IPRax 2016 S. 317; CHRISTOPH A. KERN, Richterrechtlicher Torpedoschutz, IPRax 2015 S. 319).
Der Regelungsgegenstand des LugÜ ist beschränkt - Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung; eine grundsätzliche Vereinheitlichung der nationalen Verfahrensrechte wird mit dem LugÜ nicht angestrebt. Eine eigenständige Definition des Rechtsschutzinteresses für Klagen, deren Zuständigkeit sich aus seinen Normen ergibt, enthält das LugÜ nicht (vgl. demgegenüber zur Rechtshängigkeit, allerdings bloss soweit die Zwecke von
Art. 27-29 LugÜ
betreffend, nunmehr
Art. 30 LugÜ
). Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass das LugÜ die Frage des Rechtsschutzinteresses nicht regelt; sie ist nach Landesrecht zu beurteilen. Es gibt keinen Grund, diesbezüglich von
BGE 136 III 523
abzuweichen.
4.1
Die Vorinstanz stellte fest, Ansprüche aus Wettbewerbsbehinderungen unterstünden gemäss
Art. 137 Abs. 1 IPRG
(SR 291) dem Recht des Staates, auf dessen Markt der Geschädigte von der Behinderung unmittelbar betroffen ist; vorliegend also dem britischen Recht. Beim Feststellungsinteresse handle es sich aber um ein Institut des Prozessrechts, welches entsprechend der verfahrensrechtlichen lex fori, also Schweizer Recht, zu beurteilen sei.
4.2
Die Beschwerdeführerinnen sind der Auffassung, damit sei die Vorinstanz von der
klaren Praxis des Bundesgerichts abgewichen
, welche bezüglich Feststellungsinteresse auf die lex causae abstelle. Auf diese Frage sei demzufolge englisches Recht (und europäisches Wettbewerbsrecht) anwendbar. Das englische Recht sehe keine besonderen Voraussetzungen für negative Feststellungsklagen vor, welche über das allgemeine Rechtsschutzinteresse hinausgingen.
4.3
Die Bestimmung des anwendbaren Rechts hängt von der Rechtsnatur des Feststellungsinteresses ab. Das Bundesgericht hat die Frage kurz vor Einführung der Schweizerischen Zivilprozessordnung in
BGE 133 III 282
E. 3.4 S. 287 ausdrücklich offengelassen. Sie ist nun zu entscheiden.
4.3.1
In der Rechtsprechung vor Inkrafttreten der ZPO (
BGE 77 II 344
E. 2 S. 348 ff. [Änderung der Rechtsprechung];
BGE 110 II 352
E. 1 S. 353 ff. [Präzisierung dieser Rechtsprechung mit Übersicht über die historische Entwicklung];
BGE 123 III 414
E. 7b S. 429;
BGE 129 III 295
E. 2.2 S. 299;
BGE 131 III 319
E. 3.5 S. 324) hat das Bundesgericht begründet, dass die Feststellungsklage (wie die Leistungs- und die Gestaltungsklage) dem Schutz des materiellen Rechts diene und sich daher aus diesem ableite. Das materielle Recht bestimme dementsprechend auch abschliessend die Voraussetzungen des Feststellungsinteresses. Dazu kämen Überlegungen der rechtsgleichen Behandlung. Könnte in einem Kanton Rechtsschutz verlangt werden, im andern nicht, wäre die einheitliche Anwendung des materiellen Rechts nicht gewährleistet (
BGE 110 II 352
E. 1b S. 355 f.).
Die zweite Begründung ist mit der Inkraftsetzung der ZPO als bundesrechtliches, schweizweit vereinheitlichtes Prozessrecht hinfällig. Zudem kann aus der Regelung des Feststellungsinteresses in der ZPO geschlossen werden, dass nun der Gesetzgeber selber dieses als prozessrechtlich qualifizierte. So wird in der Botschaft zu Art. 86 E-ZPO mit dem Titel "Feststellungsklage" (nunmehr
Art. 88 ZPO
)
BGE 144 III 175 S. 181
auf das in Art. 57 Abs. 2 E-ZPO (jetzt
Art. 59 Abs. 2 ZPO
) geregelte Rechtsschutzinteresse als Prozessvoraussetzung verwiesen (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen ZPO, BBl 2006 7288 Ziff. 5.6). Soweit es um das Feststellungsinteresse als Prozessvoraussetzung geht - d.h.
dass
ein solches gegeben sein muss und mit
welchen Anforderungen
, damit die staatliche Justiz in Anspruch genommen werden kann -, ist die prozessrechtliche Natur und damit die Anwendung der lex fori zu bejahen. Dass die Voraussetzungen des Feststellungsinteresses der lex fori unterstehen, ist denn auch die praktisch einhellige Lehre; es kann diesbezüglich auf die umfangreichen Literaturangaben der Vorinstanz in ihrer Erwägung 25.3.3 verwiesen werden. Vom Feststellungsinteresse als Prozessvoraussetzung unabhängig lässt sich die Umschreibung der Feststellungsklage in
Art. 88 ZPO
(ebenso wie die entsprechenden Bestimmungen zur Leistungs- und zur Gestaltungsklage in der ZPO) als materiell-rechtliche Bestimmung innerhalb der ZPO (i.d.S. FABIENNE HOHL, Procédure civile, Bd. I, 2. Aufl. 2016, S. 53 Rz. 225) verstehen. Denn damit wird nur gesagt, dass das materielle Recht auch den Anspruch verleiht, dass sein Bestehen festgestellt wird.
4.3.2
Die Beschwerdeführerinnen verweisen auf drei neuere nicht publizierte Entscheide (Urteile 5A_492/2007 vom 21. Dezember 2007 E. 3; 5A_88/2011 vom 23. September 2011 E. 4; "[i]n der Tendenz auch" 5A_264/2013 vom 28. November 2013 E. 4.1 und 4.3) undsehen darin ihre abweichende Rechtsauffassung bestätigt. Das Urteil 5A_492/2007 erging noch vor Inkrafttreten der ZPO und ist deshalb von vornherein nicht einschlägig. Was sich diesbezüglich aus dem Urteil 5A_264/2013 "in der Tendenz" ergeben soll, ist nicht ersichtlich. Im Urteil 5A_88/2011 wird festgehalten, dass die Frage, ob ein (besonderes) Interesse für die Feststellungsklage erforderlich ist, durch die lex fori geregelt sei; demgegenüber sei im Lichte des materiellen Rechts zu beurteilen, ob die klagende Partei tatsächlich über das (prozessual geforderte) Interesse verfüge (neben der dort zitierten Lehre [u.a.KNOEPFLER/SCHWEIZER/OTHENIN-GIRARD, Droit international privé suisse, 3. Aufl. 2005, Rz. 647; IVO SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2000, Rz. 670] i.d.S. auch:STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, S. 224; MARKUS, a.a.O., Rz. 1688;
derselbe
, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 11 zu
Art. 88 ZPO
. Vgl. zu der zitierten Rechtsprechung auch E. 5.3.1 hiernach). Entgegen den Beschwerdeführerinnen wird
BGE 144 III 175 S. 182
damit nicht ihr Standpunkt bestätigt, sondern vielmehr wie hier die Frage der Voraussetzungen an das Feststellungsinteresse als Beschränkungen des Zugangs zur Justiz der lex fori unterstellt.
5.
Nach der auch in
BGE 136 III 523
wiedergegebenen, stets verwendeten Formulierung aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der ZPO ist die Feststellungsklage zuzulassen, wenn der Kläger an der sofortigen Feststellung ein erhebliches schutzwürdiges Interesse hat, welches kein rechtliches zu sein braucht, sondern auch bloss tatsächlicher Natur sein kann. Diese Voraussetzung ist namentlich gegeben, wenn die Rechtsbeziehungen der Parteien ungewiss sind und die Ungewissheit durch die gerichtliche Feststellung behoben werden kann. Dabei genügt nicht jede Ungewissheit; erforderlich ist vielmehr, dass ihre Fortdauer dem Kläger nicht mehr zugemutet werden darf, weil sie ihn in seiner Bewegungsfreiheit behindert. Namentlich bei negativen Feststellungsklagen ist zudem auch auf die Interessen des Beklagten Rücksicht zu nehmen (
BGE 136 III 523
E. 5 mit Hinweisen). Wer auf Feststellung klagt, dass eine Forderung nicht besteht, zwingt damit den beklagten Gläubiger zu vorzeitiger Prozessführung. Damit wird die Regel durchbrochen, dass grundsätzlich der Gläubiger und nicht der Schuldner den Zeitpunkt der Geltendmachung eines Anspruchs bestimmt. Der vorzeitige Prozess kann den Gläubiger benachteiligen, wenn er zur Beweisführung gezwungen wird, bevor er dazu bereit und in der Lage ist (
BGE 131 III 319
E. 3.5 S. 325 mit Hinweis).
5.1
Die Beschwerdeführerinnen sehen darin eine unzulässige Privilegierung des Leistungsklägers gegenüber dem negativen Feststellungskläger jedenfalls im internationalen Verhältnis und sie berufen sich darauf, dass das LugÜ vom Prinzip der Gleichwertigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage ausgehe, eine Leistungsklage also nicht privilegiert werden dürfe, und dass das nationale Recht im Hinblick darauf auszulegen ist. Nationales Recht dürfe aufgrund des
effet-utile
-Prinzips nicht zu einer Vereitelung der praktischen Wirksamkeit des LugÜ führen.
5.1.1
Nach der Rechtsprechung des EuGH zur Rechtshängigkeitssperre gemäss EuGVVO haben Leistungs- und diese negierende Feststellungsklage den gleichen Gegenstand (Kernpunkttheorie). Entsprechend kommt es für die sistierungsauslösende und gegebenenfalls auch zuständigkeitsausschliessende Priorität nur darauf an, welche dieser Klagen zuerst eingereicht wurde (Urteil des EuGH vom
BGE 144 III 175 S. 183
19. Dezember 2013 C-452/12
Nipponkoa Insurance Co.
[Europe] Ltd, Randnr. 42 und dort angegebene Entscheide). Diese Rechtsprechung gilt gleichermassen für die Auslegung von
Art. 27 LugÜ
(Urteil des EuGH vom 20. Dezember 2017 C-467/16
Schlömp
, Randnr. 51). Das Bundesgericht ist schon in
BGE 136 III 523
E. 6.1 S. 525 von einer entsprechenden Anspruchsidentität auch im Geltungsbereich des LugÜ 1988 ausgegangen.
Die Beschwerdeführerinnen wollen daraus ein allgemeines Prinzip der Waffengleichheit zwischen Leistungs- und negativem Feststellungskläger bzw. einen allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz ableiten (ebenso: FELIX DASSER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ], Handkommentar, Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 54 i.V.m. N. 16 zu
Art. 27 LugÜ
; SIEVI, a.a.O., Rz. 614). Aus der zitierten Rechtsprechung ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte für ein über die zuständigkeitsrechtlich gewährleistete Gleichrangigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage hinausgehendes allgemeines Prinzip. Auch daraus, dass mit Art. 30 des revidierten LugÜ der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für die Zwecke der darauf abstellenden LugÜ-Bestimmungen vertraglich definiert wurde, lässt sich nichts solches ableiten (so aber SIEVI, a.a.O., Rz. 625 und 651). Denn diese Regelung betrifft nur einen einzigen Aspekt, ohne dabei die nationalen Verfahrensrechte zu vereinheitlichen; sichergestellt wird damit nur die zuständigkeitsrechtlich gewährleistete Gleichrangigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage. Die Norm gleicht, soweit die Zwecke des LugÜ betreffend, die (weiterhin bestehenden) Differenzen in den nationalen Verfahrensrechten bezüglich Verfahrenseinleitung sowie Eintritt der Rechtshängigkeit und der Fortführungslast aus, um so zu verhindern, dass ein früher eingeleitetes Verfahren durch eine spätere Klage aufgrund unterschiedlicher nationaler Regelungen des Eintritts der Fortführungslast "überholt" werden kann (vgl. FAUSTO POCAR, Erläuternder Bericht zum LugÜ, ABl. C 319 vom 23. Dezember 2009 S. 32 f. Rz. 119; REBEKKA KELLER, Rechtshängigkeit nach Lugano-Übereinkommen und schweizerischem IPRG, 2014, S. 132; BENDICHT LÜTHI, System der internationalen Zuständigkeit im Immaterialgüterrecht, 2011, S. 159 ff. Rz. 179), womit auf Ebene des LugÜ eine Gleichwertigkeit der unterschiedlichen nationalen Regeln zur Verfahrenseinleitung hergestellt wird, ohne diese aber zu vereinheitlichen oder diesbezügliche Vorgaben zu machen.
BGE 144 III 175 S. 184
Die Frage der zeitlichen Priorität zwischen Leistungsklage und negativer Feststellungklage stellt sich nur, wenn die negative Feststellungsklage überhaupt zulässig ist, was nach der lex fori u.a. ein hinreichendes Feststellungsinteresse am Klagebegehren auf negative Feststellung voraussetzt (
BGE 131 III 319
E. 3.3 S 324). Den Beschwerdeführerinnen ist daher insofern zuzustimmen, als dass durch einschränkende Voraussetzungen an die negative Feststellungsklage die Gleichwertigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage beeinträchtigt wird. In vergleichbarem Sinn hat das Bundesgericht auch schon in
BGE 129 III 295
E. 2.3 S. 299 f. dargelegt, dass ein sehr enger Zusammenhang zwischen den direkten Zuständigkeitsvorschriften des LugÜ und dem Rechtsschutzinteresse besteht. Erhöhte Anforderungen an negative Feststellungsklagen, insbesondere das Erfordernis eines besonderen Feststellungsinteresses, kann die vom LugÜ zuständigkeitsrechtlich gewährleistete Gleichrangigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage unterlaufen. Es fragt sich daher, ob nationales Recht auch
ausserhalb des Regelungsbereichs des LugÜ
aufgrund des
effet-utile
-Prinzips einschränkend auszulegen ist, damit es nicht zu einer Vereitelung von dessen praktischer Wirksamkeit führt.
5.1.2
Der EuGH verlangt im Hinblick auf die
EuGVVO
im Sinn einer besonderen Ausprägung der teleologischen Interpretation die Beachtung des "effet utile" einer unionsrechtlichen Vorschrift. Danach sollen die Vorschriften der EuGVVO nach Möglichkeit ihren Zweck erreichen und "praktische Wirksamkeit" entfalten (KROPHOLLER/VON HEIN, a.a.O., N. 78 Einl EuGVO). Dazu gehört, "falls erforderlich, eine nationale Vorschrift, die dem entgegensteht, ausser Acht zu lassen oder eine nationale Vorschrift, die nur im Hinblick auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt ausgearbeitet worden ist, auszulegen, um sie auf den betreffenden grenzüberschreitenden Sachverhalt anzuwenden" (Urteil des EuGH vom 8. November 2005 C-443/03
Leffler
, Randnr. 51, betreffend die Auslegung der Verordnung [EG] Nr. 1348/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen; vgl. auch die dort angegebenen Entscheide).
In der Lehre werden zum
LugÜ
unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten, ob das Gebot nur die Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens selbst betrifft oder ob es darüber hinaus auch dazu führen kann, dass Vorschriften des nationalen Rechts, welche die
BGE 144 III 175 S. 185
Wirksamkeit des LugÜ unterlaufen könnten, nicht oder nur modifiziert angewendet werden (für Letzteres: DOMEJ, a.a.O., N. 40 zu Präambel Protokoll 2 LugÜ; SIEVI, a.a.O., Rz. 291, 353 ff., 647; sinngemäss auch DASSER, a.a.O., N. 57 zu
Art. 27 LugÜ
, und wohl auch HOFMANN/KUNZ, in: Basler Kommentar, Lugano-Übereinkommen, 2. Aufl. 2016, N. 535 zu
Art. 5 LugÜ
). Nach anderer Auffassung übergeht dieses extensive Verständnis, dass die EuGVVO Gemeinschaftsrecht ist, während es sich beim LugÜ um einen völkerrechtlichen Vertrag handle, der die Rechtshoheit der Vertragspartner zu beachten habe. Der EuGH habe denn auch das Gebot des
effet utile
mit Bezug auf das (frühere) Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ), das ebenfalls völkerrechtlicher Natur und nicht Gemeinschaftsrecht gewesen sei, nie erwähnt (AXEL BUHR, Europäischer Justizraum und revidiertes Lugano-Übereinkommen, 2010, Rz. 584 ff.; GROLIMUND/BACHOFNER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ] zuminternationalen Zivilverfahrensrecht, Anton K. Schnyder [Hrsg.],2011, N. 25 zu Protokoll 2 LugÜ). Letzteres trifft allerdings nicht zu (vgl. Urteil
Kongress Agentur Hagen GmbH
, Randnr. 20), jedoch fehlt bislang diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH zum LugÜ.
Das Bundesgericht seinerseits hat in drei nach
BGE 136 III 523
gefällten Entscheiden betreffend die Vollstreckbarerklärung nach LugÜ ausgeführt: "Des règles de procédure suisses ne sont applicables que si elles ne portent pas atteinte à l'effet utile de la convention" (
BGE 143 III 404
E. 5.2.1 S. 408; Urteile 5A_646/2013 vom 9. Januar 2014 E. 5.1; 5A_162/2012 vom 12. Juli 2012 E. 6.1), allerdings ohne sich vertieft mit der Frage auseinanderzusetzen. Vor allem aber ging es dort um die Auslegung der Bestimmungen des LugÜ selber, die im Rahmen ihres (so ausgelegten) Geltungsbereichs nationales Recht verdrängten. Es erübrigt sich vorliegend, die von den Beschwerdeführerinnen und einem Teil der Lehre vertretene These vertiefter zu prüfen, da in internationalen Situationen wie der hier gegebenen auch gestützt auf nationales Recht ein genügendes Feststellungsinteresse zu bejahen ist (nachfolgend E. 5.2 und 5.3).
5.2
Das Bundesgericht hat sich in
BGE 136 III 523
vorerst auf die in
BGE 131 III 319
E. 3.5 S. 326 dargelegten Grundsätze berufen, die eine binnenrechtliche Streitigkeit betrafen (E. 6.4 S. 526 f.). Alsdann hat es festgehalten, die Gründe, die im nationalen Verhältnis
BGE 144 III 175 S. 186
dagegen sprächen, das Interesse des Feststellungsklägers, bei einem ohnehin bevorstehenden Gerichtsverfahren durch Klageerhebung vor der Gegenseite einen ihm genehmen Gerichtsstand zu sichern (vereinfachend als forum running bezeichnet), als genügendes Feststellungsinteresse anzuerkennen, gälten gleichermassen bei internationalen Verhältnissen (E. 6.5 S. 527 f.).
5.2.1
Klarzustellen ist vorab, dass bei solchen Situationen zwei der Voraussetzungen bezüglich Feststellungsinteresse (gemäss der vor Inkrafttreten der ZPO verwendeten Formulierung) regelmässig erfüllt sind und dies auch sein müssen. Erstens sind die Rechtsbeziehungen der Parteien offenkundig ungewiss und zweitens kann diese Ungewissheit durch gerichtliche Feststellung behoben werden. Ferner sind bei negativen Feststellungsklagen kaum Situationen denkbar, in welchen diesem Kläger eine andere Klage (Leistungs- oder Gestaltungsklage) zur Verfügung stehen würde; die diesbezügliche Subsidiarität dürfte regelmässig nicht zum Tragen kommen. Es geht also einzig um das weitere Kriterium gemäss der früher verwendeten Formulierung, wonach die Fortdauer der Ungewissheit für den Feststellungskläger unzumutbar sein muss. Dies wurde in solchen Situationen verneint, da das Weiterbestehen der Ungewissheit aufgrund der bevorstehenden Klageerhebung durch die Gegenseite zeitlich beschränkt (und deshalb zumutbar) erscheint. Es geht vorliegend somit um eine Wertung, namentlich darum, ob das Interesse des negativen Feststellungsklägers, die bestehende Ungewissheit selber gerichtlich klären zu lassen, bei derartigen Situationen in internationalen Verhältnissen schutzwürdig erscheint.
5.2.2
Wie erwähnt (E. 5 hiervor) wird im binnenrechtlichen Verhältnis ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf die Interessen des behaupteten Gläubigers hingewiesen; dieser soll nicht durch die negative Feststellungsklage zu
vorzeitiger
Prozessführung (Beweisführung) gezwungen werden, wenn er noch nicht dazu bereit ist. Unabhängig davon, ob dieses Argument im Hinblick auf das LugÜ (E. 5.1 hiervor) zulässig ist, ist die Übertragung dieses Gesichtspunktes auf Situationen, in denen es der Partei bei einem bevorstehenden Gerichtsverfahren um die Sicherung eines ihr genehmen Gerichtsstands geht, in internationalen Streitigkeiten
rein tatsächlich
nicht sachgerecht. Es kann daher auch offenbleiben, ob das Abstellen auf eine beweisrechtliche "Unzeit" als Ausgangspunkt der Beurteilung des Feststellungsinteresses aus dogmatischen
BGE 144 III 175 S. 187
Gründen abzulehnen ist, weil in diesem Stadium ja gerade das Vorliegen eines Anspruchs und damit die Gläubiger- bzw. Schuldnerstellung lediglich behauptet wird (i.d.S. HAAS/WOJTOWICZ, Neuerungen bei der Feststellungsklage nach Schweizer Recht, Zeitschrift für Zivilprozess International [ZZPInt] 2014 S. 313; PAUL OBERHAMMER, in: ZPO, Oberhammer und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 26 zu
Art. 88 ZPO
). Denn von einem Zwang zur vorzeitigen Prozessführung kann nicht die Rede sein, ist der Gläubiger doch in solchen Situationen gerade selber daran, seine Leistungsklage einzureichen (JEGHER, a.a.O., S. 146; HOFMANN/KUNZ, a.a.O., N. 535 zu
Art. 5 LugÜ
). Er ist also aus seiner eigenen Sicht bereit, einen Prozess zu führen. Dem hält die Beschwerdegegnerin entgegen, dass sie in England zu einem Prozess (einer Leistungsklage) bereit sei, bedeute nicht, dass dies auch in andern Rechtsordnungen der Fall wäre. Denn in England sei die Klageeinleitung stark vereinfacht und Beweismittel könnten erst im Verlauf des Verfahrens präsentiert werden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass auch nach
Art. 229 ZPO
der Aktenschluss erst nach dem zweiten Schriftenwechsel eintritt (vgl.
BGE 140 III 312
). Ob die Klageeinleitung in England oder in anderen Rechtsordnungen einfacher ist, kann aber ohnehin dahingestellt bleiben. Dass eine (anwaltlich beratene) Partei einen doch für sie nicht unbedeutenden Prozess einzuleiten bereit ist, ohne hierfür vorbereitet zu sein, auch wenn sie nach dem anwendbaren Prozessrecht noch nicht alles Material sofort beibringen muss, erscheint nicht nachvollziehbar.
Das Argument des Zwangs zur vorzeitigen Prozessführung überzeugt aus einem weiteren Grund nicht. So hat das Bundesgericht im bereits zitierten
BGE 129 III 295
ein Interesse der italienischen Klägerin an der Feststellung, dass sie das aus mehreren nationalen Teilen bestehende europäische Patent der Beklagten mit Sitz in der Schweiz nicht verletze, nach der herkömmlichen Formel (vgl. E. 5 hiervor) bejaht. Dies, weil die Beklagte zuvor die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung verlangt hatte mit der Androhung, dass sie andernfalls in Deutschland rechtliche Schritte [bezüglich des deutschen Teils des Patents] einleite. Unter diesen Umständen hätte die Klägerin mit rechtlichen Schritten (Klage) der Beklagten bezüglich der übrigen nationalen Teile des Patents "rechnen" müssen, weshalb für sie insofern eine unzumutbare Ungewissheit bestanden habe. Die Schutzwürdigkeit dieses Feststellungsinteresses sei auch nicht dadurch entfallen, dass die Klägerin mit ihrer Feststellungsklage "konkret
BGE 144 III 175 S. 188
in Aussicht" gestellten Verletzungsklagen bezüglich der nationalen Teile des Patents (ausser des deutschen) im Sinn des forum running zuvorgekommen sei (E. 2.4 S. 300; vgl. kritisch zu diesem Entscheid: HOLZER/JOSI, Die negative Feststellungsklage im schweizerischen Patentprozess: Feststellungsinteresse, Gerichtsstand und Streitgegenstand in internationalen, euro-internationalen sowie nationalen Verhältnissen, GRUR 2009 S. 579 f.).
5.2.3
Die Beschwerdegegnerin argumentiert weiter, nach schweizerischem Recht solle der materiell-rechtliche Gläubiger, der die Beweislast für die von ihm behaupteten Ansprüche trage, sozusagen als
Ausgleich
für diese Bürde als Kläger grundsätzlich den Zeitpunkt der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens sowie
auch den Gerichtsort
bestimmen können. Dafür gibt es keine Grundlage. Entgegen einer Lehrmeinung (DOMEJ, a.a.O., S. 553 bei Fn. 31) folgt solches auch nicht aus
BGE 133 III 282
E. 4.5 S. 291. Es geht bei dieser Rechtsprechung einerseits darum, dass bei einer negativen Feststellungsklage auch die Interessen des Gläubigers hinsichtlich der Beweisführung (soweit sie bei ihm liegt) zu berücksichtigen sind. Bei der Argumentation der Beschwerdegegnerin geht es deshalb um den bereits unter E. 5.2.2 abgehandelten Aspekt. Andererseits betrifft dieses Urteil spezifisch die Zuständigkeitsvorschrift von
Art. 5 Ziff. 3 LugÜ
. Diese ist nicht Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens (siehe nicht publ. E. 6), weshalb hier nicht zu vertiefen ist, ob insofern an dieser Rechtsprechung nach dem Urteil
Folien Fischer
noch festgehalten werden kann.
5.2.4
Unzutreffend ist zumindest für das euro-internationale Verhältnis sodann das Argument, die Gerichte würden mit unnötigen parallelen Verfahren belastet (
BGE 136 III 523
E. 6.4 S. 527). Unter der Herrschaft des LugÜ werden parallele Verfahren durch
Art. 27 ff. LugÜ
verhindert. Zu unnötigen Parallelverfahren kann es vielmehr gerade führen, wenn bei einer zuerst rechtshängig gemachten negativen Feststellungsklage das Feststellungsinteresse durch eine später erhobene Leistungsklage als nachträglich wegfallend betrachtet wird, wird dadurch doch ein Anreiz gesetzt, trotz bereits rechtshängigem Verfahren noch ein weiteres einzuleiten.
5.2.5
Der weitere in
BGE 136 III 523
genannte Grund, dass die Bejahung eines Feststellungsinteresses an der Sicherung eines genehmen Gerichtsstands bei bevorstehenden Gerichtsverfahren Bemühungen um die vorprozessuale einvernehmliche Streitbeilegung gefährden
BGE 144 III 175 S. 189
könnte, kann allein nicht entscheidend sein. Zwar mag es - gerade auch zur Entlastung der Justiz - wünschenswert sein, wenn die Parteien vorprozessuale Einigungsgespräche führen; verpflichtet dazu sind sie aber nicht. Sodann lässt sich ein forum running so nur in Bezug auf negative Feststellungsklagen in der Schweiz unterbinden, nicht aber generell, also bezüglich allfälliger alternativer Zuständigkeiten in anderen LugÜ-Staaten. Erst eine umfassende Verhinderung des forum running könnte jedoch eine allfällige Gefährdung vorprozessualer Vergleichsverhandlungen durch diesbezügliche Überlegungen verhindern; eine Verunmöglichung nur, aber immerhin, in der Schweiz vermag das Problem nicht (oder höchstens in Einzelfällen) zu lösen. Im Übrigen wird auch im Rahmen gerichtlicher Verhandlungen eine frühzeitige Einigung der Parteien gefördert und sind ausserprozessuale Verhandlungen auch während einem laufendem Verfahren noch möglich. Dieser Grund kann daher jedenfalls nicht genügen, um die Interessen aufzuwiegen, die im internationalen Verhältnis für eine Sicherung eines einer Partei genehmen Gerichtsstands sprechen (nachfolgend E. 5.3, v.a. 5.3.2).
5.3.1
Wie vorne (E. 4.3.2) erwähnt, verweisen die Beschwerdeführerinnen auf verschiedene Entscheide des Bundesgerichts (namentlich das zit. Urteil 5A_88/2011), wonach das tatsächliche Bestehen eines Feststellungsinteresses im Lichte des materiellen Rechts zu beurteilen ist. Die zitierte Formulierung trifft bei
positiven
Feststellungsklagen zu. Bei negativen Feststellungsklagen wird aber nicht das Feststellen des Bestehens eines Rechts begehrt, sondern dessen Nicht-Bestehen geltend gemacht. In diesem Fall ist deshalb das Klagerecht vom streitgegenständlichen materiellen Anspruch zu unterscheiden. Beim Interesse an einer negativen Feststellungsklage handelt es sich um ein
tatsächliches
Interesse, gewisse praktische Nachteile nicht gewärtigen zu müssen (zutreffend FRANÇOIS BOHNET, L'intérêt digne de protection [art. 59 al. 2 lit. a CPC]: retour sur l'ATF141 III 68, SZZP 2017 S. 184).
Während nach der Rechtsprechung vor Erlass der ZPO für die Zulassung der negativen Feststellungsklage ein
erhebliches
schutzwürdiges Interesse vorausgesetzt wurde, verlangt die Bestimmung von
Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO
bloss ein schutzwürdiges Interesse. Das Bundesgericht hat in
BGE 141 III 68
offengelassen, ob im Hinblick darauf nach wie vor im Sinn der bislang verwendeten Formel ein
BGE 144 III 175 S. 190
erhebliches Interesse erforderlich ist, weil im konkreten Fall einer negativen Feststellungsklage gegen eine Betreibung ohnehin besondere Grundsätze zur Anwendung gelangen würden (
BGE 141 III 68
E. 2.3 a.E. S. 72). BOHNET legt dar, dass es bei negativen Feststellungsklagen nicht darum gehen kann, ein erhebliches von einem weniger erheblichen schutzwürdigen Interesse abzugrenzen. Vielmehr lautet die Frage, ob das geltend gemachte tatsächliche Interesse von einer
Art
ist, dass es Schutz verdient (BOHNET, a.a.O., S. 185).
5.3.2
In
BGE 141 III 68
hat das Bundesgericht die Voraussetzungen, unter denen eine negative Feststellungsklage des betriebenen Schuldners zuzulassen ist, gelockert. Angesichts der für den Betriebenen einschneidenden Wirkungen eines Eintrags im Betreibungsregister mit Blick auf seine Kreditwürdigkeit sei das Feststellungsinteresse
ohne weiteres
zu bejahen (
BGE 141 III 68
E. 2.6. und 2.7 S. 75 ff. mit einem Vorbehalt in E. 2.7 S. 79 in Bezug auf die Verjährung). Nach der früheren Rechtsprechung war demgegenüber die Feststellungsklage nur dann zulässig, wenn namhafte Beträge in Betreibung gesetzt worden waren und der Betriebene dartun konnte, dass er deshalb in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit behindert werde. Dem (behaupteten) Gläubiger blieb dann der Nachweis offen, dass ihm die Beweisführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus triftigen Gründen nicht zuzumuten sei (
BGE 120 II 20
E. 3d/dd S. 27; vgl. auch
BGE 141 III 68
E. 2.5 S. 74).
Diese Lockerung der Rechtsprechung betrifft zwar ein anderes Rechtsgebiet. Jedoch zeigt sie im Rahmen der Abwägung zwischen den Interessen des Feststellungsklägers und des Feststellungsbeklagten, dass wer betreibt, grundsätzlich auch dazu bereit sein muss, den Zivilprozess über die in Betreibung gesetzte Forderung aufzunehmen (HUNKELER/WIRZ, Erhöhter Schutz gegen ungerechtfertigte Betreibungen, Jusletter 16. Februar 2016 Rz. 13). In Situationen, bei denen es zu einem forum running kommt, hat der (potentielle) Gläubiger zwar noch keine rechtlichen Schritte eingeleitet, solche stehen aber unmittelbar bevor. Insofern ist die Interessenlage vergleichbar (vgl. E. 5.2.2 hiervor). Es ist sodann nicht zu übersehen, dass mit der bisherigen restriktiven Rechtsprechung zum forum running in der Schweiz klagewillige Parteien im internationalen Verhältnis benachteiligt wurden, weil ihnen so eine Klagemöglichkeit in der Schweiz verwehrt wurde, während im Ausland von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden konnte (ebenso:
BGE 144 III 175 S. 191
SCHWANDER/FÜLLEMANN, a.a.O., S. 1243). Im Gegensatz dazu ist es im Binnenverhältnis möglich, allein durch die schweizerische Rechtsprechung eine umfassende, einheitliche Handhabung herbeizuführen resp. sicherzustellen (vgl. auch E. 5.2.5). Das tatsächliche Interesse, einen Prozess in diesem und nicht in jenem Staat zu führen, und damit daran, eine negative Feststellungsklage in der Schweiz erheben zu können, kann erheblich sein, allein wegen der unterschiedlichen Verfahrensrechte, der unterschiedlichen Verfahrenssprache, Dauer und Kosten der Verfahren etc. (DANIEL FÜLLEMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner und andere [Hrsg.], Bd. 1, 2. Aufl. 2016, N. 26 zu
Art. 88 ZPO
); deutlich weniger Bedeutung hat im Vergleich dazu die Wahl einer bestimmten Zuständigkeit innerhalb der Schweiz.
5.3.3
In der Lehre, aber auch in der Praxis, wird der Missbrauch der negativen Feststellungsklage im euro-internationalen Bereich durch sog. Torpedo-Klagen bemängelt, also Klagen, die in einem für die Langsamkeit seiner Gerichte bekannten Land erhoben werden, um während der Verfahrensdauer Leistungsklagen zu blockieren. Im Ergebnis entwickle sich die negative Feststellungsklage durch die Rechtsprechung des EuGH (gemeint die Gleichrangigkeit von Leistungs- und spiegelbildlichen negativen Feststellungsklagen) zu einem Instrument der Klageabwehr (MABILLARD, a.a.O., N. 34 zu
Art. 27 LugÜ
). Und es wird für Deutschland gefordert, der Bundesgerichtshof möge von seiner - auch in
BGE 136 III 523
(E. 6.2) zitierten - Rechtsprechung (Urteil vom 11. Dezember 1996, publ. in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen [BGHZ] 134 [1998] S. 201 ff., S. 211) abweichen und an einem vorrangigen Feststellungsinteresse festhalten (BRAND, a.a.O., S. 314 ff.). Mit Letzterem würde jedoch einzig einer in Deutschland erhobenen negativen Feststellungsklage die Zulässigkeit entzogen. Auf die Zulässigkeit von negativen Feststellungsklagen, die in anderen LugÜ-Staaten erhoben werden, hätte dies keinen Einfluss; dafür bedürfte es einer Änderung der Kernpunkttheorie oder des LugÜ. Zudem wird mit einem Ansetzen beim Feststellungsinteresse übergangen, dass die Blockadewirkung nach
Art. 27 LugÜ
auch durch unzulässige negative Feststellungsklagen eintritt, bis die (für ihre Langsamkeit bekannten) Gerichte des mit einer solchen Klage zuerst angerufenen Staats über die Unzulässigkeit der Klage befunden haben (in gleichem Sinne, allerdings bezüglich derartigen Klagen vor unzuständigen Gerichten, LÜTHI, a.a.O., S. 155 ff. Rz. 175 f.). Zu Recht wird dem im
BGE 144 III 175 S. 192
Übrigen entgegengehalten, Torpedo-Klagen seien nicht ein Problem des Gleichrangs von Leistungs- und negativen Feststellungsklagen, sondern die Folge der höchst unterschiedlichen Effizienz der Justizsysteme innerhalb des Geltungsbereichs des LugÜ und müssten auf dieser Ebene gelöst werden (THOMAS SIMONS, in: Brüssel I-Verordnung, Kommentar zur VO [EG] 44/2001 und zum Übereinkommen von Lugano, Simons/Hausmann [Hrsg.], 2012, N. 35 zu Art. 27. Ähnlich betreffend die Zulässigkeit negativer Feststellungsklagen am Deliktsgerichtsstand: LÜTHI, a.a.O., S. 157 ff. Rz. 178). Im Übrigen müsste dem auf euro-internationaler Ebene begegnet werden. Für den schweizerischen Justizraum ist entscheidend, dass die Anerkennung eines Feststellungsinteresses an einer negativen Feststellungsklage in einer Situation, in der die Parteien bei einem bevorstehenden Gerichtsverfahren suchen, einen ihnen genehmen Gerichtsstand zu sichern, allein bewirken kann, dass in der Schweiz eine solche Klage erhoben wird. Da die schweizerische Justiz nicht für überlange Verfahren bekannt ist, ist nicht zu befürchten, dass die Zulässigkeit solcher Klagen als Folge des vorliegenden Entscheids für die Erhebung von Torpedo-Klagen missbraucht werden könnte.
5.4
Zusammenfassend ist festzustellen, dass jedenfalls im internationalen Verhältnis das Interesse einer Partei, bei einem bevorstehenden Gerichtsverfahren einen ihr genehmen Gerichtsstand zu sichern, als genügendes Feststellungsinteresse zu qualifizieren ist. Vorzubehalten ist freilich auch hier das stets geltende Verbot des Rechtsmissbrauchs (vgl. dazu etwa, bezogen auf Art. 21 LugÜ 1988, das Urteil 4A_143/2007 vom 6. Juli 2007 E. 3). Wie es sich binnenstaatlich verhält, braucht hier nicht beurteilt zu werden. Das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerinnen ist nach dem Gesagten zu bejahen. Konsequenterweise fällt dieses Rechtsschutzinteresse aufgrund der späteren Erhebung einer Leistungsklage durch die Gegenseite auch nicht wieder dahin.