Urteilskopf
145 IV 404
45. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1221/2018 vom 27. September 2019
Regeste
Art. 121 Abs. 3 lit. a BV
;
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
; Einbruchsdelikt, Diebstahl in Verbindung mit Hausfriedensbruch, Landesverweisung.
In verfassungskonformer Auslegung erfasst
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
den schlichten Ladendiebstahl unter Verletzung eines Hausverbots in einem Kaufhaus nicht (E. 1.5.3).
A.
Das Obergericht des Kantons Zürich stellte im Berufungsverfahren am 27. September 2018 die Rechtskraft der folgenden vom Bezirksgericht Zürich am 12. September 2017 gegen A. ausgesprochenen Schuldsprüche fest:
- mehrfacher Diebstahl (
Art. 139 Ziff. 1 StGB
),
- Sachbeschädigung (
Art. 144 Abs. 1 StGB
),
- mehrfacher Hausfriedensbruch (
Art. 186 StGB
),
- mehrfaches Vergehen gegen
Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG
,
- mehrfache Übertretung von
Art. 19a Ziff. 1 BetmG
.
Das Obergericht sprach ihn in einem Anklagepunkt vom Vorwurf des Diebstahls frei und bestrafte ihn mit 10 Monaten Freiheitsstrafe und Fr. 300.- Busse. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob es mit einer Probezeit von vier Jahren auf.
BGE 145 IV 404 S. 405
Es verwies ihn für 5 Jahre des Landes (Ziff. 6 des Dispositivs).
B.
A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das vorinstanzliche Urteil in Ziff. 6 des Dispositivs aufzuheben, von einer Landesverweisung abzusehen oder eventualiter die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er beantragt die unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.5
Gemäss
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
ist der Ausländer wegen Diebstahls (Art. 139) in Verbindung mit Hausfriedensbruch (Art. 186) unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz zu verweisen. Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen (
Art. 66a Abs. 2 StGB
). In den Urteilen 6B_1117/2018 vom 11. Januar 2019 E. 2.1 und 6B_598/2019 vom 5. Juli 2019 E. 4.1 war
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
nicht in der vorliegenden Konstellation anzuwenden.
1.5.1
Wie die Erstinstanz legt die Kommentarliteratur
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
nach
Art. 121 Abs. 3 lit. a BV
aus, sodass Ausländer erfasst werden, die wegen "eines Einbruchsdelikts" rechtskräftig verurteilt worden sind, also namentlich einen Einschleich- oder Einbruchdiebstahl begangen haben (ZURBRÜGG/HRUSCHKA, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 14 zu
Art. 66a StGB
); die Autoren nehmen in historischer Auslegung mit BRUN/FABRI (Die Landesverweisung - neue Aufgaben und Herausforderungen für die Strafjustiz, recht 4/2017 S. 236) an, dass der durch ein Hausverbot belegte Ladendieb nicht erfasst wird. Wie TRECHSEL/BERTOSSA (in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 9 zu
Art. 66a StGB
) ausführen, stellt der Deliktskatalog die Konkretisierung von
Art. 121 Abs. 3 und 4 BV
dar und ist abschliessend. Die in der Verfassung verwendete Bezeichnung "eines Einbruchsdelikts" ("l'effraction"; "effrazione") ist kein Begriff des schweizerischen Strafrechts und wurde mit
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
umgesetzt. Der Tatbestand setzt keinen Sachschaden voraus (BBl 2013 6022). Es genügt, wenn der Täter in das Haus durch eine Tür oder ein Fenster eindringt oder einschleicht ("s'introduise"), ohne dass er etwa ein Schloss aufbrechen müsste
BGE 145 IV 404 S. 406
(MICHEL DUPUIS UND ANDERE, CP Code pénal, 2. Aufl. 2017, N. 3 zu
Art. 66a StGB
).
1.5.2
Bei der Verfassungsauslegung ist vom Wortlaut der Norm auszugehen; dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz kommt dabei besondere Bedeutung zu (BBl 2013 5983 f.;
BGE 145 IV 364
E. 3.3 S. 367). Das Wort "Einbruch" ist die Substantivierung des Verbs "einbrechen", das primär bedeutet: "gewaltsam in ein Gebäude, in einen Raum o.Ä. eindringen (um etwas zu stehlen)" (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 8. Aufl. 2015). Der über die "Ausschaffungsinitiative" in die Verfassung eingeführte politisierte kriminologische Begriff des "Einbruchsdelikts" ist (wie jener des "Drogenhandels") ohne "strafrechtlich bestimmten Inhalt" (BBl 2013 6022), aber von medial eingängiger Bildhaftigkeit (vgl. JUKSCHAT/WOLLINGER, Vermummte Männer mit Brecheisen bei Nacht, Zur medialen Visualisierung kriminologischer Befunde am Beispiel des Wohnungseinbruchsdiebstahls, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, MschrKrim 1/2019 S. 43). Das dürfte auch die landläufig "gewöhnliche" Bedeutung des Worts Einbruchsdelikt in der Schweiz wiedergeben. Ein eigentlicher Gewaltakt ist nach der Umsetzungsnorm von
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
indes nicht erforderlich, da bereits der "Einschleichdiebstahl" erfasst wird (BBl 2013 6022). Auch das Unrecht des Hausfriedensbruchs liegt im Eindringen in einen Raum durch die unerwünschte Person (DELNON/RÜDY, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 9 zu
Art. 186 StGB
). Bereits ein Betreten entgegen dem Willen des Hausherrn ist objektiv tatbestandsmässig. Dieses Eindringen als solches ist kein "Einbruchsdelikt".
1.5.3
Der Deliktskatalog enthält die schwersten Straftaten, aber auch solche, die im Einzellfall Bagatellen darstellen können (STEFAN HEIMGARTNER, in: StGB, JStG Kommentar, Andreas Donatsch und andere [Hrsg.], 20. Aufl. 2018, N. 4 zu
Art. 66a StGB
), sodass eine systematische Auslegung des
Art. 66a Abs. 1 StGB
nicht weiterführt. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip ist nicht anzunehmen, dass ein Ladendiebstahl unter schlichter Verletzung eines (hier soweit ersichtlich privatrechtlichen) Hausverbots in einem dem Publikum offenstehenden Verkaufsgeschäft zu einer obligatorischen Landesverweisung führt. Massgebend ist der Wortlaut der BV. Mit der Erstinstanz und der Literatur ist
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
im Sinne der BV tatsächlich als Einschleich- oder Einbruchdiebstahl auszulegen. Der gemeinübliche Ladendiebstahl in Verbindung mit Hausfriedensbruch
BGE 145 IV 404 S. 407
(der bei Verletzung eines Hausverbots in einem Kaufhaus vorliegt) ist nicht unter
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
zu subsumieren (BRUN/FABRI, a.a.O., S. 236).
Diese restriktive Interpretation von
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
stützt sich auf die wortlautkonforme Auslegung des in
Art. 121 Abs. 3 lit. a BV
verwendeten Begriffs des "Einbruchsdelikts" und schliesst einzig den schlichten Ladendiebstahl unter Verletzung eines Hausverbots in einem Kaufhaus vom Anwendungsbereich des
Art. 66a Abs. 1 lit. d StGB
aus.