BGE 150 III 219 vom 7. März 2024

Dossiernummer: 5A_611/2023

Datum: 7. März 2024

Artikelreferenzen:  Art. 9 VFRR, Art. 17 SchKG, Art. 31 SchKG, Art. 88 SchKG, Art. 116 SchKG, Art. 121 SchKG, Art. 159 SchKG , Art. 116 Abs. 1 SchKG, Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR, Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO, Art. 9 Abs. 2 der Verordnung vom 5. Juni 1996 über die im Betreibungs- und Konkursverfahren zu verwendenden Formulare und Register sowie die Rechnungsführung [VFRR; SR 281.31], Art. 9 Abs. 3 VFRR

BGE referenzen:  112 III 14, 115 III 109, 122 III 130, 130 III 661

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

150 III 219


23. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_611/2023 vom 7. März 2024

Regeste

Art. 116 Abs. 1 SchKG ; Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR ; Bedeutung der Minimalfrist zur Stellung des Verwertungsbegehrens.
Bei der Regelung von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR handelt es sich um eine blosse Ordnungsvorschrift. Weist das Betreibungsamt ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren nicht zurück, hat dies auf die Gültigkeit der nachfolgenden Amtshandlungen keinen Einfluss, sofern es ihm erst nach Ablauf der Minimalfrist Folge leistet (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 219

BGE 150 III 219 S. 219

A. B. betrieb mit Zahlungsbefehl Nr. x des Betreibungsamtes Zürich 1 vom 30. Juni 2020 A. für einen Betrag von Fr. 12'358'443.81 zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 19. Juni 2020. Am 16. Juni 2021 vollzog das Betreibungsamt die Pfändung in Abwesenheit des Schuldners. Die am 18. August 2021 ausgestellte Pfändungsurkunde wurde dessen Vertreter am 23. August 2021 rechtshilfeweise durch das Betreibungsamt Lugano zugestellt. Mit Schreiben vom 30. August 2021 teilte das Betreibungsamt Zürich 1 dem Vertreter des Schuldners
BGE 150 III 219 S. 220
mit, dass der Gläubiger die Verwertung der gepfändeten Vermögenswerte verlangt habe. Die rechtshilfeweise Zustellung dieses Schreibens durch das Betreibungsamt Lugano erfolgte am 18. November 2022.

B. Über diese Mitteilung des Verwertungsbegehrens beschwerte sich A. mit Eingabe vom 18. November 2022 beim Bezirksgericht Zürich als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde über Betreibungsämter. Zur Begründung führte er aus, dass der Betreibungsgläubiger das Verwertungsbegehren zu früh gestellt habe. Es sei deshalb unwirksam und alle daran anschliessenden Betreibungshandlungen seien nichtig. Zudem sei die Betreibung Nr. x gemäss Art. 121 SchKG erloschen, da das unzulässigerweise zu früh gestellte Verwertungsbegehren innert Frist nicht erneuert worden sei. Mit Beschluss vom 21. Mai 2023 wies die untere Aufsichtsbehörde die Beschwerde ab, soweit sie darauf eintrat. A. zog die Sache an das Obergericht des Kantons Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs weiter. Das Obergericht wies den Beschwerdeweiterzug mit Entscheid vom 27. Juli 2023 ab.

C. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 25. August 2023 beantragt A., das Urteil des Obergerichts vom 27. Juli 2023 sei aufzuheben und wie folgt abzuändern: Erstens sei die Unwirksamkeit des Verwertungsbegehrens vom 26./30. August 2021 und die Nichtigkeit jeder Betreibungshandlung im Rahmen der Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes Zürich 1 nach dem 23. September 2022 festzustellen. Zweitens seien die Entgegennahme und die Mitteilung des Verwertungsbegehrens aufzuheben. Drittens sei dem Verwertungsbegehren keine Folge zu leisten und das Erlöschen der Betreibung Nr. x festzustellen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Ein Gläubiger kann die Verwertung der gepfändeten beweglichen Vermögensstücke sowie der Forderungen und der anderen Rechte frühestens einen Monat und spätestens ein Jahr, diejenige der gepfändeten Grundstücke frühestens sechs Monate und spätestens zwei Jahre nach der Pfändung verlangen ( Art. 116 Abs. 1 SchKG ). Sowohl die Minimal- als auch die Maximalfristen beginnen mit dem Vollzug der Pfändung ( BGE 115 III 109 E. 2; FREY/STAIBLE, in:
BGE 150 III 219 S. 221
Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 3. Aufl. 2021, N. 32 zu Art. 116 SchKG ). War der Schuldner - wie vorliegend - bei der Pfändung weder anwesend noch vertreten, so erfolgt der Vollzug erst mit der Zustellung der Pfändungsurkunde an ihn ( BGE 130 III 661 E. 1.2; BGE 112 III 14 E. 5a; Urteile 5A_346/2018 vom 3. September 2018 E. 3.1.1; 7B.47/2006 vom 8. Mai 2006 E. 2.4; FREY/STAIBLE, a.a.O., N. 32 zu Art. 116 SchKG ). Im Gegensatz zur Maximalfrist (s. BGE 69 III 46 S. 50) hat der Gesetzgeber die in Art. 116 Abs. 1 SchKG statuierte Minimalfrist ausschliesslich im Interesse des Schuldners vorgesehen; der Schuldner soll die Möglichkeit haben, den betreibenden Gläubiger aus anderen Quellen zu befriedigen und so die drohende Verwertung abzuwenden (Urteile 5A_753/2014 vom 8. Januar 2015 E. 2.1; 5A_ 43/2010 vom 19. März 2010 E. 3.2). Vorliegend hat die Vorinstanz zutreffend erkannt, dass die Rahmenfrist, innert der das Verwertungsbegehren gestellt werden kann, entgegen dem in der Pfändungsurkunde vom 18. August 2021 angegebenen Zeitrahmen (24. Dezember 2020 bis 24. November 2021) erst am 24. September 2021 zu laufen begann ( Art. 116 Abs. 1 SchKG i.V.m. Art. 31 SchKG und Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO ) und der Betreibungsgläubiger sein Verwertungsbegehren somit etliche Tage vor Ablauf der einmonatigen Wartefrist von Art. 116 Abs. 1 SchKG gestellt hat.

3.2 Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren, deren Stellung im Zeitpunkt, wo sie beim Betreibungsamt einlangen, gesetzlich noch nicht zulässig ist, werden nicht eingetragen, sondern dem Einsender mit der Bemerkung: "verfrüht, erst am ... zulässig" zurückgeschickt ( Art. 9 Abs. 2 der Verordnung vom 5. Juni 1996 über die im Betreibungs- und Konkursverfahren zu verwendenden Formulare und Register sowie die Rechnungsführung [VFRR; SR 281.31] ). Ausgenommen sind solche Begehren, die höchstens zwei Tage zu früh einlangen. Diese werden gleichwohl entgegengenommen und, wie die andern, in der Reihenfolge des Eingangs eingetragen. Dem Eingangsdatum wird das Datum des Tages beigefügt, von dem an sie zulässig sind und als gestellt gelten ( Art. 9 Abs. 3 VFRR ). Die gleiche Vorschrift enthielt bereits Art. 29 der Verordnung Nr. 1 vom 18. Dezember 1891 zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (BS 3 86). Die Verbindlichkeit dieser an das Betreibungsamt gerichteten Weisung wird in der Lehre sowie der Rechtsprechung bestätigt (vgl. BGE 122 III 130 E. 2b; FREY/STAIBLE, a.a.O., N. 44 zu Art. 116 SchKG ; GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 5. Aufl.
BGE 150 III 219 S. 222
2012, S. 294 Rz. 1190; WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 4. Aufl. 1997, N. 10 zu Art. 116 SchKG und N. 2 zu Art. 88 SchKG ). Um die mit Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR angestrebte rechtsgleiche Behandlung verfrühter Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren zu gewährleisten, ist den kantonalen Aufsichtsbehörden zu empfehlen, den Betreibungsämtern die vorstehend dargelegten Grundsätze in geeigneter Form in Erinnerung zu rufen (vgl. PETER, Inspektion des Betreibungsamtes - ein paar Anregungen, BlSchK 2019 S. 189 ff.).

3.3 Das Vorbringen des Beschwerdeführers, ein verfrüht gestelltes Verwertungsbegehren sei unwirksam (vgl. auch RÜETSCHI, in: SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 37 zu Art. 116 SchKG ; STUDER/ZÖBELI, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, 6. Aufl. 2023, S. 129), trifft nach dem Gesagten insofern zu, als das Betreibungsamt seit je her angewiesen ist, dem Gläubiger ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren zurückzusenden. Indes haben die Vorinstanzen richtig erkannt, dass die in Art. 116 Abs. 1 SchKG statuierte Minimalfrist für den Schuldner nicht hinsichtlich des Zeitpunkts des Verwertungsbegehrens, sondern des weiteren Fortgangs des Betreibungsverfahrens von zentraler Bedeutung ist (zit. Urteil 5A_43/ 2010 E. 3.2). Weist das Betreibungsamt ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren vorschriftswidrig nicht zurück, sondern leistet es ihm bloss einstweilen keine Folge, bis es gestellt werden könnte, besteht daher kein Anlass, die folgenden Amtshandlungen als ungültig zu betrachten. Die Situation verhält sich hier nicht anders, als im Falle eines vorzeitigen Fortsetzungsbegehrens ( Art. 88 SchKG ). Diesbezüglich hat das Bundesgericht entschieden, dass dann, wenn das Betreibungsamt ein verfrühtes Fortsetzungsbegehren zwar nicht zurückgewiesen, aber diesem immerhin einstweilen keine Folge geleistet hat, keine Verletzung von Art. 159 SchKG vorliegt und die zur gesetzlichen Zeit erfolgte Konkursandrohung (auch auf rechtzeitige Beschwerde nach Art. 17 SchKG hin) nicht aufzuheben ist (Urteil B.200/1990 vom 30. November 1990 E. 3, in: Repertorio di giurisprudenza patria 1991 S. 386). Im Ergebnis ist den Vorinstanzen daher darin beizupflichten, dass es sich bei der Vorschrift von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR (ebenso wie bei der vorstehend genannten Vorgängernorm) um eine blosse Ordnungsvorschrift handelt, deren Missachtung keinen Einfluss auf die Gültigkeit der nachfolgenden Amtshandlungen hat, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein
BGE 150 III 219 S. 223
vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben. Hiervon aber kann im vorliegend zu beurteilenden Fall keine Rede sein. Das Betreibungsamt hat nach Eingang des Verwertungsbegehrens nämlich unbestrittenermassen über ein Jahr zugewartet und dem Beschwerdeführer standen statt der gesetzlichen Schonfrist von einem Monat rund vierzehn Monate zur Verfügung, um die in Betreibung gesetzte Forderung (zuzüglich Kosten) doch noch aus eigenem Antrieb zu begleichen. Eine Verletzung von Art. 116 Abs. 1 SchKG ist damit nicht ersichtlich.

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