BGE 95 IV 59 vom 1. April 1969

Datum: 1. April 1969

Artikelreferenzen:  Art. 21 StGB, Art. 63 StGB, Art. 65 StGB, Art. 100 StGB, Art. 139 StGB , Art. 63 ff. StGB, Art. 100 Ziff. 1 Satz 1 StGB, Art. 21 Abs. 1 StGB, Art. 139 Ziff. 2 StGB

BGE referenzen:  93 IV 58 , 81 IV 46, 93 IV 57, 80 IV 158, 93 IV 58, 90 IV 79, 90 IV 79

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

95 IV 59


16. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. April 1969 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen J. Herrmann und R. Käser.

Regeste

1. Art. 63 ff. StGB . Ermittlung von Art und Mass der Strafe bei Zusammentreffen von strafbaren Handlungen; Vorgehen, Aufgabe und Ermessen des kantonalen Richters (Erw. 1).
2. Art. 65 und 100 Ziff. 1 Satz 1 StGB. Der Milderungsgrund des jugendlichen Alters lässt eine weitere Herabsetzung des Strafrahmens zu, wenn er mit einem andern Milderungsgrund zusammentrifft (Erw. 2).

Sachverhalt ab Seite 60

BGE 95 IV 59 S. 60

A.- Die Brüder J. und X. Herrmann sowie R. Käser und J. Knecht stahlen vom 7. Juli bis zum 13. August 1967, als drei von ihnen verhaftet wurden, aus Häusern und abgestellten Personenwagen wiederholt Geld oder Gebrauchsgegenstände. Sie handelten bald alle zusammen, bald zu zweit oder zu dritt, teils bei sich gerade bietender Gelegenheit und teils nach vorgefasstem Plan.
Für die Nacht vom 12. auf den 13. August hatten sie einen Raubüberfall auf einen Wirt in Neukirch vorgesehen. Gegen Mitternacht brachte J. Herrmann seinen Bruder und R. Käser mit dem Auto an den Tatort. Nach 1.00 Uhr schlichen die beiden letzteren ins Gasthaus, wo Käser den schlafenden Wirt mit einem Gummiknüttel bewusstlos schlagen und der ortskundige X. Herrmann sich den Tresorschlüssel verschaffen sollte. Der Wirt wurde jedoch sofort wach und rollte sich nach einem ersten zögernd geführten Schlag des Käser aus dem Bett. Als daraufhin die Haushunde Laut gaben, flohen die Täter durch ein Fenster, ohne etwas zu erbeuten.
J. Herrmann war damals bald 24, R. Käser etwas über 19, X. Herrmann und J. Knecht weniger als 18 Jahre alt.

B.- Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau verurteilte am 30. Oktober 1968 J. Herrmann wegen unvollendeten qualifizierten Raubversuchs, einfachen und wiederholten qualifizierten Diebstahls sowie wegen Hehlerei zu vier Jahren Zuchthaus und drei Jahren Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit, R. Käser wegen unvollendeten qualifizierten Raubversuchs,
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wiederholten qualifizierten Diebstahls, wiederholter Sachbeschädigung und wiederholten Hausfriedensbruches zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von einem Jahr.
X. Herrmann und J. Knecht wurden von Jugendgerichten beurteilt.

C.- Die Vizestaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil der Kriminalkammer mit Bezug auf die ausgefällten Strafen aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, die beiden Verurteilten strenger, Käser insbesondere mit Zuchthaus statt bloss mit Gefängnis zu bestrafen.

D.- J. Herrmann und Käser beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerdeführerin wirft der Kriminalkammer vor, sie sei bei der Ermittlung von Strafart und Strafmass falsch vorgegangen; richtigerweise hätte sie zunächst bei jedem Täter die Strafe für die schwerste Tat, nämlich den (versuchten) Raubüberfall auf den Wirt, nach Art. 63 und 139 Ziff. 2 StGB ermitteln sollen und erst dann die Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe feststellen, gegeneinander abwägen und als Elemente der Strafzumessung berücksichtigen dürfen. Es gehe nicht an, dass die Kriminalkammer die Strafe vorerst einzig unter Heranziehung der Milderungsgründe zu bestimmen suche und erst hernach den Strafschärfungsgründen Rechnung trage. Auch sei dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, welches Gewicht die Vorinstanz diesen Gründen im einzelnen zumesse.
Die Regeln des StGB über die Strafzumessung bestimmen, dass der Richter die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu bemessen und was er dabei zu berücksichtigen hat (Art. 63), wann und auf welche Weise er die Strafe mildern kann (Art. 64-66), dass er bei Rückfall die Strafe schärfen muss (Art. 67) und dass er den Täter, der mehrere Freiheitsstrafen verwirkt hat, zu der Strafe der schwersten Tat verurteilen und deren Dauer angemessen erhöhen soll (Art. 68 Ziff. 1). Daraus erhellt, dass der Richter dann, wenn der Täter sich wegen verschiedener Straftaten zu verantworten hat, von der Strafe ausgehen muss, die das Gesetz für die schwerste Tat vorsieht. In welcher Reihenfolge er die Regeln über die Strafzumessung im übrigen aber
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anzuwenden hat, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen; es sagt insbesondere nicht, dass der Richter nach der von der Beschwerdeführerin angedeuteten Methode vorgehen müsse. Das ist im Einzelfall vielmehr dem Richter überlassen. Es widerspricht auch nicht dem Sinn oder Zweck dieser Regeln, dass schon bei der Ermittlung der Strafe für die schwerste Tat (Einsatzstrafe), ausser der allgemeinen Bestimmung des Art. 63, allfällige Milderungs- und Strafschärfungsgründe berücksichtigt werden. Die Anwendung von Art. 68 Ziff. 1 ist zudem für den Täter nur von Bedeutung, wenn bei der Strafzumessung der Strafrahmen der schwersten Tat mit Rücksicht auf die übrigen Taten überschritten wird. Geschieht das nicht, misst der Richter die Strafe vielmehr im Rahmen der Strafandrohung der schwersten Tat zu, so kommt das im Ergebnis auf das gleiche heraus, wie wenn er die Mehrheit der Handlungen nur innerhalb von Art. 63 straferhöhend berücksichtigen würde (vgl. BGE 77 IV 16 ).
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin braucht der kantonale Richter im Urteil auch nicht zu sagen, wie viel er als Einsatzstrafe und wie viel er als Zusatzstrafe in Rechnung stelle, welches Gewicht er den Umständen, die für die Höhe der Gesamtstrafe entscheidend sind, im einzelnen beimesse, ob insbesondere ein Milderungsgrund durch einen gleichfalls gegebenen Schärfungsgrund voll aufgewogen werde oder ob dieser oder jener überwiege und wenn ja, in welchem Masse. Vom Richter das verlangen, hiesse seine Aufgabe unnötig erschweren oder gar verunmöglichen, ohne dass der Kassationshof nachprüfen könnte, ob die Vorinstanz sie richtig erfüllt habe ( BGE 93 IV 57 Erw. a). Eine Strafe lässt sich naturgemäss weder in ihren Teilen noch in ihrer Gesamtheit mathematisch errechnen, sondern bloss abschätzen, weshalb dem kantonalen Richter notwendig ein weitgehendes Ermessen zukommt.
Auch im Berufungsverfahren besteht die Aufgabe des Richters nicht darin, dass er die von der ersten Instanz ausgefällte Strafe auf richtige Bewertung aller Umstände nachzuprüfen hätte, noch ist er gehalten, von den Ansätzen oder Massstäben der Vorinstanz auszugehen. Wenn die obere kantonale Instanz sich über die Angemessenheit einer Strafe auszusprechen hat, setzt sie ihr Ermessen vielmehr an Stelle desjenigen der ersten Instanz und wendet die Regeln über die Strafzumessung selbständig an ( BGE 80 IV 158 , BGE 81 IV 46 ). Sie braucht zudem sowenig wie die Vorinstanz sämtliche Umstände,
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die für das Verschulden und die Höhe der Gesamtstrafe von Bedeutung sein können, bis in alle Einzelheiten im Urteil anzugeben; eine Zusammenfassung der wesentlichen Verschuldenselemente muss genügen ( BGE 93 IV 58 Erw. c).

2. Der Kassationshof dagegen misst die Strafe nicht nach eigenem Ermessen zu. Er greift auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nur ein, wenn die ausgesprochene Strafe aus dem gesetzlichen Rahmen fällt oder vom kantonalen Richter nach unzutreffenden Gesichtspunkten oder in Überschreitung des ihm zustehenden Ermessens ausgefällt worden ist ( BGE 78 IV 72 Erw. 2; BGE 81 IV 46 , 123, 314; BGE 90 IV 79 ). Die Beschwerdeführerin wirft der Kriminalkammer solche Rechtsverletzungen vor. Sie macht insbesondere geltend, die Vorinstanz habe die Strafen in unzulässiger Weise gemildert, jedenfalls das ihr zustehende Ermessen klar überschritten.
a) Hat der Täter zur Zeit der Tat das achtzehnte, aber nicht das zwanzigste Jahr zurückgelegt, so kann der Richter die Strafe nach den Bestimmungen des Art. 65 mildern ( Art. 100 Ziff. 1 Satz 1 StGB ). Das gleiche gilt für den Fall, dass der Täter die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende führt, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat ( Art. 21 Abs. 1 StGB ). Wenn diese Milderungsgründe eine doppelte Herabsetzung des ordentlichen Strafrahmens erlauben, so bedeutet das in einem Falle wie dem vorliegenden, dass der Richter statt auf Zuchthaus von mindestens fünf Jahren, die das Gesetz für bandenmässigen Raub vorsieht ( Art. 139 Ziff. 2 StGB ), nicht bloss auf Zuchthaus ohne bestimmte Mindestdauer, sondern auch auf Gefängnis von sechs Monaten bis zu fünf Jahren erkennen kann (Art. 65 Abs. 2 und 3).
Die Vorinstanz hat diese Möglichkeit mit Recht bejaht. Die Entstehungsgeschichte des Art. 100 StGB zeigt, dass der Milderungsgrund des jugendlichen Alters eine weitere Herabsetzung des Strafrahmens zulässt, wenn er mit einem andern zusammentrifft. Art. 100 Ziff. 1 wurde 1950 neu gefasst, um den Richter bei 18 bis 20jährigen Tätern ganz allgemein zur Strafmilderung nach Art. 65 StGB zu ermächtigen. Das jugendliche Alter wurde ausdrücklich als selbständiger Milderungsgrund eigener Art anerkannt (vgl. Botschaft des Bundesrates, BBl 1949 I 1288; StenBull StR 1949 S. 590, NR 1950 S. 195). Es kann daher schon für sich allein zu einer Strafmilderung nach Art. 65 führen, lässt aber auch eine weitergehende Herabsetzung
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der Strafe zu, wenn noch ein anderer Strafmilderungsgrund vorliegt. Würde anders entschieden, so wären die 18 bis 20jährigen Täter, wie die Vorinstanz mit Recht bemerkt, in Wirklichkeit nicht besser gestellt als die volljährigen. Wie sehr die Möglichkeit einer selbständigen Milderung wegen des jugendlichen Alters gerechtfertigt ist, erhellt daraus, dass Art. 100 StGB nach einem neuen Revisionsentwurf des Bundesrates auf 20 bis 25jährige Täter ausgedehnt werden soll (Botschaft des Bundesrates, BBl 1965 I 586 ff.).
Die Beschwerdeführerin bestreitet die Möglichkeit einer solchen Milderung im Grunde genommen nicht; sie wendet bloss ein, dass den Milderungsgründen der Art. 21 Abs. 1 und 100 Ziff. 1 bei Käser der Schärfungsgrund des Art. 68 Ziff. 1 gegenüberstehe, was bei gegenseitiger "Aufrechnung" der Gründe eine zweimalige Anwendung des Art. 65 und damit eine kumulative Strafmilderung ausschliesse. Die Beschwerdeführerin übersieht, dass ein Milderungs- und ein Schärfungsgrund sich weder gegenseitig aufheben noch miteinander zu "verrechnen" sind; wenn solche Gründe zusammentreffen, hat das bloss zur Folge, dass der Strafrahmen sowohl nach oben wie nach unten erweitert wird und der Richter die Strafzumessung innerhalb dieses doppelt erweiterten Strafrahmens vorzunehmen hat (SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 200 oben).
b) Freilich sieht Art. 100 Ziff. 1 Satz 1 bloss eine fakultative Strafmilderung nach Art. 65 StGB vor, verpflichtet den Richter folglich nicht, tatsächlich eine andere Strafart auszusprechen oder unter das angedrohte Mindestmass zu gehen; die Milderung kann sich in der Herabsetzung innerhalb des ordentlichen Rahmens erschöpfen (vgl. BGE 71 IV 69 ). Ebensowenig braucht er zweimal zu mildern, wenn der Milderungsgrund des Art. 100 Ziff. 1 zwar mit einem weitern zusammentrifft, der Richter aber nach den Umständen bloss eine einfache Milderung für gerechtfertigt hält. Findet er dagegen, dass der 18 oder 19jährige Täter nach seiner ganzen Entwicklung und seinem Charakter noch milder bestraft zu werden verdient, so verletzt der Richter das Gesetz nicht, wenn er dem Milderungsgrund des jugendlichen Alters nach Art. 65 besonders Rechnung trägt. Zu dieser Auffassung konnte die Vorinstanz aber bei Käser gelangen, ohne das ihr zustehende Ermessen zu überschreiten (was näher ausgeführt wird).

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