BGE 122 II 228 vom 8. Juli 1996

Datum: 8. Juli 1996

Artikelreferenzen:  Art. 4a VRV, Art. 17 SVG, Art. 32 SVG , Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG, Art. 90 Ziff. 2, Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 32 SVG, Art. 90 Ziff. 1 SVG, Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV, Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4a Abs. 5 VRV, Art. 16 Abs. 2 SVG, Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG, Art. 105 Abs. 2 OG, Art. 36a Abs. 3 OG, Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG

BGE referenzen:  118 IV 188, 118 IV 277, 119 IB 154, 120 IB 285, 120 IV 252, 121 II 127, 121 IV 230, 123 II 37 , 119 IB 154, 121 II 127, 121 IV 230, 120 IB 285, 118 IV 188, 120 IV 252, 118 IV 277, 118 IV 188, 120 IV 252, 118 IV 277

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

122 II 228


32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Juli 1996 i.S. Bundesamt für Polizeiwesen gegen S. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Art. 90 Ziff. 2, Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 32 SVG ; Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV ; obligatorischer Führerausweisentzug.
Wer die Innerorts-Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 31 km/h überschreitet, begeht objektiv immer eine schwere Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG . Bejahung subjektiver Tatbestandselemente auf Grund örtlicher Situation (E. 3c).

Sachverhalt ab Seite 228

BGE 122 II 228 S. 228
S. überschritt am 26. August 1994 um 16.14 Uhr auf der Lukasstrasse in St. Gallen mit seinem Personenwagen die gesetzliche Innerorts-Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 31 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge von 5 km/h). Das Untersuchungsrichteramt St. Gallen büsste ihn deswegen am 10. November 1994 wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Fr. 600.--.
BGE 122 II 228 S. 229
Das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen entzog S. am 13. Januar 1995 wegen desselben Vorfalls den Führerausweis für die Dauer von drei Monaten. Einen Rekurs des Betroffenen hiess die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 13. Dezember 1995 teilweise gut und setzte die Entzugsdauer auf zwei Monate fest.
Das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und S. sei der Führerausweis für die Dauer von sechs Monaten zu entziehen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. a) Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen, namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung sowie den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Wo das Fahrzeug den Verkehr stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten, namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen ( Art. 32 Abs. 1 SVG ; SR 741.01). Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge beträgt unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 50 km/h in Ortschaften (Art. 4a Abs. 1 lit. a der Verkehrsregelverordnung [VRV; SR 741.11]). Abweichende signalisierte Höchstgeschwindigkeiten gehen den allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten vor ( Art. 4a Abs. 5 VRV ).
Gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder mit Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führer- oder Lernfahrausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führer- oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat ( Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ).
b) Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet hat.
BGE 122 II 228 S. 230
Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus ( BGE 121 IV 230 E. 2b/aa mit Hinweisen).
Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, gefährdet in schwerer Weise den Verkehr im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG . Diese beiden Vorschriften stimmen inhaltlich miteinander überein ( BGE 120 Ib 285 ).
Nach der neueren Rechtsprechung gilt auf richtungsgetrennten Autobahnen, dass bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um wenig mehr als 30 km/h die konkreten Umstände zu prüfen sind für die Beantwortung der Frage, ob Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG anwendbar ist. Ungeachtet der konkreten Umstände sind diese Bestimmungen dagegen stets anwendbar, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h überschritten wird ( BGE 118 IV 188 E. 2b; BGE 119 Ib 154 E. 2a, je mit Hinweis). Ebenfalls unabhängig der konkreten Umstände ist objektiv eine schwere Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG erfüllt, wenn auf nicht richtungsgetrennten Autostrassen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h oder mehr überschritten wird (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Kassationshofes vom 3. Mai 1996 i.S. P.).
In BGE 121 II 127 wurde auf die besonderen Gefahren von Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts hingewiesen. Die Zahl der vom Lenker zu verarbeitenden Reize ist innerorts grösser als ausserorts und auf der Autobahn, was eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. Zudem sind innerorts viele schwache Verkehrsteilnehmer vorhanden (Fussgänger, Velofahrer), die - vor allem Kinder und ältere Menschen - einem besonderen Risiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus besteht eine erhöhte Gefahr von Seitenkollisionen. In dem in BGE BGE 121 II 127 zu beurteilenden Fall schützte das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde, die einen mittelschweren Fall nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG annahm bei einer Fahrzeuglenkerin, welche die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um
BGE 122 II 228 S. 231
27 km/h überschritten hatte. Es liess offen, ob nicht sogar ein schwerer Fall nach Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG anzunehmen gewesen wäre, da eine Erhöhung der Dauer des Führerausweisentzugs aus prozessualen Gründen ausser Betracht fiel (E. 4d).
c) Der Beschwerdegegner hat die signalisierte Höchstgeschwindigkeit innerorts um 31 km/h überschritten. Da auf nicht richtungsgetrennten Autostrassen bereits eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h objektiv eine schwere Verkehrsregelverletzung darstellt, ist auch hier von einer solchen auszugehen.
Im angefochtenen Entscheid äussert sich die Vorinstanz nur theoretisch über Geschwindigkeiten, die im Innerortsbereich gefahren werden dürfen, nicht aber über die besonderen Örtlichkeiten der Lukasstrasse in St. Gallen. In ihrer Vernehmlassung fügt sie abschliessend bei, die Lukasstrasse stelle keine typische Innerortsstrecke dar, da sie im Messbereich nicht überbaut sei. Diese Aussage berichtigt die Vorinstanz jedoch in der Duplik, weil sie früher irrtümlich davon ausgegangen sei, die Messung habe im Bereich der Brücke stattgefunden. Die Vorinstanz nimmt somit für den Bereich der Lukasstrasse 30, dem Ort der Geschwindigkeitsmessung, eine dichte Überbauung und auch Innerortscharakter an. Damit ist der Einwand des Beschwerdegegners gegenstandslos, das Bundesgericht sei im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG an die vorinstanzliche Feststellung gebunden, vorliegend handle es sich nicht um eine typische Innerortssituation.
Aus dem Polizeirapport vom 6. September 1994, den vom Beschwerdegegner in der Vernehmlassung sowie der Duplik eingereichten Fotos und dem von der Stadtpolizei St. Gallen gefaxten Ausschnitt des Stadtplanes mit eingezeichneten Liegenschaften ergibt sich folgendes Bild: Die Radarmessung erfolgte auf der Höhe Lukasstrasse Nr. 30. Bereits vor dieser Liegenschaft steht linksseitig das Wohnhaus Nr. 34 mit einem Ausgang (Gartentor) auf das Trottoir. Noch vor dieser Liegenschaft besteht links eine öffentlich zugängliche Einfahrt und rechts - unmittelbar vor dem Trainingsplatz des FC St. Gallen - eine private Zufahrt. Ab der Liegenschaft Nr. 30 ist die linke Seite der Lukasstrasse dicht überbaut. Auf der rechten Seite erstreckt sich noch auf etwa 20 m der Trainingsplatz; anschliessend folgt auch hier eine dichte Überbauung mit überwiegend Gewerbe- oder Industriebetrieben sowie dazugehörigen Ausfahrten und Parkplätzen. Die Lukasstrasse beschreibt kurz vor der Liegenschaft Nr. 30 eine leichte Rechtskurve und ist auf der ganzen
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Länge beidseitig mit Trottoirs versehen. Sie verbindet die Ortsteile Neudorf und Heiligkreuz. Insbesondere aufgrund der dichten Überbauung und den Einfahrten im Bereich der Geschwindigkeitsmessung ist mit dem BAP und entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners der Innerortscharakter der fraglichen Stelle zu bejahen.
Diesen Verhältnissen hat der Beschwerdegegner mit seiner massiv übersetzten Geschwindigkeit in krasser Weise nicht Rechnung getragen. Er musste - da die Lukasstrasse zwei Ortsteile miteinander verbindet - insbesondere mit Fussgängern und Zweiradfahrern rechnen. Zudem musste er gewärtigen, dass Fahrzeuge aus verschiedenen Einfahrten vor und nach der Liegenschaft Nr. 30 auf die Lukasstrasse einbiegen würden. Diese anderen Verkehrsteilnehmer durften sich, auch soweit sie wartepflichtig waren, auf den Vertrauensgrundsatz berufen ( BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). Sie mussten sich nicht darauf einstellen, dass ein Fahrzeug mit einer derart übersetzten Geschwindigkeit herannahen würde (vgl. BGE 118 IV 277 , wonach auf Hauptstrassen ausserorts, wo die allgemeine Höchstgeschwindigkeit nach Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV 80 km/h beträgt, generell mit Geschwindigkeiten von über rund 90 km/h nicht gerechnet werden muss). Unter diesen Umständen ist das Verhalten des Beschwerdegegners mindestens als grobfahrlässig zu bezeichnen, weshalb auch subjektiv eine schwere Verkehrsregelverletzung vorliegt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Verkehrsaufkommen im Zeitpunkt der Widerhandlung gering war und eine konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht aktenkundig ist. Denn die Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG setzt keine konkrete Gefahr voraus. Eine erhöhte abstrakte Gefahr genügt. Diese lag hier vor.
d) Die Ausführungen des Beschwerdegegners sowohl in Vernehmlassung als auch in der Duplik befassen sich hauptsächlich mit den örtlichen Gegebenheiten im Bereich der Brücke, nicht aber auf der Höhe der Lukasstrasse 30, dem hier entscheidenden Standort. Ausgehend von dieser falschen Annahme gehen denn auch seine rechtlichen Erwägungen an der Sache vorbei. Soweit der Beschwerdegegner geltend macht, der Strafrichter habe ihn nur wegen Art. 90 Ziff. 1 SVG verurteilt, woran die Administrativbehörde gebunden sei, kann auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden ( Art. 36a Abs. 3 OG ). Schliesslich hilft dem Beschwerdegegner auch der Hinweis auf die Teilrevision des Bundesgesetzes über die Ordnungsbussen vom 6. Oktober 1995 nicht weiter. Denn auch nach der neuen Ordnungsbussenverordnung vom 4.
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März 1996 werden Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts um 16 und mehr km/h wie bisher im ordentlichen Strafverfahren geahndet (Bussenliste 303.1; AS 1996, 1088).

4. Nach dem Gesagten hat der Beschwerdegegner einen obligatorischen Entzugsgrund gesetzt ( Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ). Da er die neuerliche Verfehlung zudem innert zwei Jahren seit dem letzten Führerausweisentzug begangen hat, beträgt die Entzugsdauer mindestens sechs Monate ( Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG ; BGE 119 Ib 154 E. 2b).

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