BGE 124 III 188 vom 9. März 1998

Datum: 9. März 1998

Artikelreferenzen:  Art. 2 LugÜ, Art. 5 LugÜ, Art. 117 IPRG, Art. 74 OR , Art. 5 Ziff. 1 LugÜ, Art. 117 Abs. 1 IPRG, Art. 74 Abs. 2 Ziff. 3 OR

BGE referenzen:  100 II 450, 122 III 43, 122 III 298, 123 III 414, 124 III 436, 124 III 444, 125 III 108, 131 III 227, 133 III 282, 135 III 556, 142 III 466 , 122 III 43, 122 III 298, 123 III 414, 100 II 450

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

124 III 188


33. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. März 1998 i.S. A. AG gegen B. (Berufung)

Regeste

Art. 5 Ziff. 1 des Lugano-Übereinkommens (LugÜ); Erfüllungsortsgerichtsstand.
Kann bei der Bestimmung des Erfüllungsorts eines eingeklagten Anspruchs, der sich auf mehrere vertragliche Verpflichtungen stützt, auf die für den Anspruch charakteristische Verpflichtung abgestellt werden?

Sachverhalt ab Seite 188

BGE 124 III 188 S. 188
Die A. AG (Klägerin) mit Sitz in Dietikon importierte und vertrieb in der Schweiz seit Dezember 1990 die Produkte der B. (Beklagte) mit Sitz in Kopenhagen. Im September 1995 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie wolle inskünftig die Firma D. AG mit dem Import betrauen. Sie beabsichtige nicht, die Zusammenarbeit mit der Klägerin abzubrechen, indessen wünsche sie, dass ihre Produkte fortan von beiden Unternehmen vertrieben würden. Die Klägerin wendete ein, der zwischen ihr und der Beklagten bestehende Alleinvertriebsvertrag könne nur unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten aufgelöst werden. Die Beklagte bestritt das Bestehen eines solchen Vertrags und liess ihre Produkte fortan von der SFS einführen und vertreiben.
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Darauf belangte die Klägerin die Beklagte vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich auf Zahlung von Fr. 150'000.-- nebst Zins als Schadenersatz. In Gutheissung der Unzuständigkeitseinrede der Beklagten trat das Handelsgericht am 14. Juli 1997 auf die Klage nicht ein.
Das Bundesgericht weist die von der Klägerin gegen diesen Beschluss erhobene Berufung ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4. Indessen bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz nicht - wie die Klägerin noch vorbringt - aufgrund von Art. 5 Ziff. 1 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstrekkung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen [LugÜ]; SR 0.275.11) verpflichtet gewesen wäre, bei der Bestimmung des Erfüllungsorts neben der vertriebsbezogenen auch die kaufrechtliche Pflicht aus dem Alleinvertriebsvertrag zu berücksichtigen. Nach Ansicht der Klägerin wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, für beide Verpflichtungen einen einheitlichen Erfüllungsort am Schwerpunkt des Rechtsverhältnisses zu bestimmen. Diesen Schwerpunkt nimmt sie wiederum in Dietikon an.
a) Wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Streitgegenstand bilden, ermöglicht Art. 5 Ziff. 1 LugÜ dem Kläger, alternativ zum allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand nach Art. 2 LugÜ , den Beklagten vor dem Gericht des Ortes zu verklagen, an dem die Verpflichtung erfüllt werden soll oder zu erfüllen wäre. Der Erfüllungsort bestimmt sich nicht autonom, sondern richtet sich nach dem auf die vertragliche Verpflichtung anwendbaren Recht (lex causae; BGE 122 III 43 E. 3a S. 45 mit Hinweisen). Das anwendbare Recht ergibt sich seinerseits aus der Subsumtion der erfüllten oder zu erfüllenden Verpflichtung unter das Kollisionsrecht des mit der Streitsache befassten Gerichts ( BGE 122 III 298 E. 3a S. 299 f.). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zum Brüsseler Übereinkommen (Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968; EuGVÜ), dem das LugÜ nachempfunden wurde, ist aber nicht auf jede beliebige Verpflichtung, sondern nur auf jene abzustellen, die dem vertraglichen Anspruch entspricht, auf den der Kläger seine Klage stützt. Macht der Kläger Ansprüche auf
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Schadenersatz geltend oder beantragt er die Auflösung des Vertrags aus Verschulden der anderen Partei, so ist auf die vertragliche Verpflichtung abzustellen, deren Nichterfüllung zur Begründung dieser Ansprüche behauptet wird (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1976 i.S. de Bloos gegen Bouyer, Rs. 14/76, Slg. 1976, S. 1508, Rz. 13/14, bestätigt mit Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, Rs. 266/85, Slg. 1987, S. 254, Rz. 9, und mit Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, Slg. 1994, S. 2956 ff., Rz. 23). Bei synallagmatischen Verträgen ist folglich für jede Verpflichtung ein gesonderter Erfüllungsort zu bestimmen ( BGE 122 III 43 E. 3b S. 45).
b) Selbst wenn sich der eingeklagte Anspruch auf mehrere Verpflichtungen stützt, hält die Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich an einer für jede einzelne Verpflichtung vorzunehmenden Bestimmung des anwendbaren Rechts bzw. des Erfüllungsorts fest (Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, a.a.O., S. 254 ff., Rz. 11-19, bestätigt mit Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, a.a.O., S. 2957, Rz. 23-24). Um eine Gerichtsstandszersplitterung zu vermeiden, weist der EuGH das mit der Streitsache befasste Gericht allerdings an, sich bei der Feststellung seiner Zuständigkeit am Grundsatz zu orientieren, wonach Nebensächliches der Hauptsache folgt (Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, a.a.O., S. 256, Rz. 19). Einzig bei Klagen, welche sich auf mehrere arbeitsrechtliche Verpflichtungen stützen, hält der EuGH dafür, dass zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf die charakteristische Leistung abzustellen ist (EuGH, Urteil vom 26. Mai 1982 i.S. Ivenel gegen Schwab, Rs. 133/81, Slg. 1982, S. 1901, Rz. 18-20, bestätigt mit Urteil vom 15. Februar 1989 i.S. Six Constructions gegen Humbert, Slg. 1989, S. 363, Rz. 14-15). In nicht arbeitsrechtlichen Verhältnissen lehnt der EuGH die Konzentration der eingeklagten Verpflichtungen auf die charakteristische Leistung indessen ausdrücklich ab (Urteil vom 15. Januar 1987 i.S. Shenavai gegen Kreischer, a.a.O., S. 254 ff., Rz. 10-17, bestätigt mit Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, a.a.O., S. 2957, Rz. 24).
Die Rechtsprechung des EuGH, welche die der Klage zugrunde liegende Verpflichtung zu isolieren sucht, wird von einem Teil der Lehre kritisiert. Gerade bei Verträgen, die keine eigentliche Erfüllungshandlung beinhalteten oder bei denen der Erfüllungsort schwer feststellbar sei, führe sie häufig zu keinem befriedigenden Ergebnis:
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Gerichtsstände ohne engere Beziehung zur Streitsache oder grundsätzlich verpönte Klägergerichtsstände seien die Folge. Insbesondere bei Klagen, welche sich auf mehrere Verpflichtungen stützten, sei es bisweilen unmöglich, einen allgemeinen Erfüllungsort zu lokalisieren, weshalb auf den Wohnsitzgerichtsstand ausgewichen werden müsse. Die Verweisung anhand isolierter Verpflichtungen missachte Sinn und Zweck von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ , der dem Kläger eine klare und vorhersehbare Wahlmöglichkeit bieten wolle. Ausserdem begünstige die Methode des EuGH das forum shopping (GEORGES A. L. DROZ, Delendum est forum contractus?, Rec. Dalloz 41/1997, Chronique, S. 355 f.; ALFRED E. VON OVERBECK, Interprétation traditionelle de l'article 5.-1. des Conventions de Bruxelles et de Lugano: Le coup de grâce?, in: Festschrift Droz, E pluribus unum, Den Haag 1996, S. 287 ff.). Einzelne Gerichte der Vertragsstaaten sind deshalb von der Rechtsprechung "de Bloos" abgewichen und haben anhand der charakteristischen Leistung verwiesen (Übersicht bei DROZ, a.a.O., S. 353 f., und bei HÉLÈNE GAUDEMET-TALLON, Les Conventions de Bruxelles et de Lugano, 2. Aufl., Paris 1996, S. 128 f.). Die Konzentration mehrerer eingeklagter Verpflichtungen auf die charakteristische Leistung hat auch Generalanwalt Lenz dem EuGH in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache "Custom Made" vorgeschlagen (Schlussanträge des Generalanwalts zum Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, a.a.O., S. 2931, E. 68 f.). Der EuGH verwarf seinen Ansatz und hielt ausdrücklich an der Rechtsprechung "de Bloos" fest (EuGH, Urteil vom 29. Juni 1994 i.S. Custom Made Commercial gegen Stawa Metallbau, a.a.O., S. 2957, Rz. 24).
Das Bundesgericht ist auf die vor der Unterzeichnung des LugÜ ergangene Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ in Nachachtung des Protokolls Nr. 2 über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens (SR 0.275.11) verpflichtet ( BGE 123 III 414 E. 4 S. 420 f.). Den nachfolgenden Urteilen des EuGH zum EuGVÜ ist gebührend Rechnung zu tragen, wobei eine möglichst einheitliche Auslegung der beiden Übereinkommen anzustreben ist (Erklärung der Vertreter der Regierungen der Unterzeichnerstaaten des Luganer Übereinkommens, die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation sind [SR 0.275.11]). Wenngleich die Kritik an der Rechtsprechung "de Bloos" und "Shevanai" in gewissen Fällen beachtlich erscheint, sieht sich das Bundesgericht angesichts des Urteils "Custom Made" und mit Rücksicht auf die Wahrung der Parallelität zwischen LugÜ und
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EuGVÜ nicht veranlasst, den Begriff der Verpflichtung im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ vom EuGH abweichend zu qualifizieren. Eine vom EuGVÜ verschiedene Auslegung des Begriffs würde der Rechtsunsicherheit und mangelnden Vorhersehbarkeit des Erfüllungsorts, wie sie ein Teil der Lehre als Ergebnis der Rechtsprechung des EuGH erkannt haben will, Vorschub leisten (ebenso GAUDEMET-TALLON, Rev. crit. dr. internat. priv. 1997, S. 592 ff.).
aa) Die Klägerin verlangt Schadenersatz aus antizipiertem Vertragsbruch. Nach der Rechtsprechung "de Bloos" müssten die kaufrechtliche und die vertriebsbezogene Verpflichtung der Beklagten separat unter das Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG; SR 291) subsumiert werden, wobei allenfalls die Möglichkeit einer Konzentration auf die hauptsächliche Verpflichtung zu prüfen wäre. Die Vorinstanz hat indessen für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass die Klägerin ihre Ansprüche einzig auf die Verletzung der vertriebsbezogenen Verpflichtung der Beklagten stützt. Die separate Anknüpfung des kaufrechtlichen Elements entfällt somit.
bb) Nach Art. 117 Abs. 1 IPRG untersteht ein Vertrag bei Fehlen einer Rechtswahl dem Recht des Staates, mit dem er am engsten zusammenhängt. Somit ist jenes staatliche Recht zu bestimmen, mit welchem die vertriebsbezogene Pflicht der Beklagten angesichts ihres wirtschaftlichen und sozialen Kontextes funktionell den stärksten Bezug aufweist (AMSTUTZ/VOGT/WANG, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht, N. 6 zu Art. 117; DUTOIT, Commentaire de la loi fédérale du 18 décembre 1987, N. 4 zu Art. 117; KELLER/KREN KOSTIEWICZ, in: Heini/Keller/Siehr/Vischer/Volken, IPRG Kommentar, N. 13-20 zu Art. 117). Bei Alleinvertriebsrechten besteht dieser Bezug zum Vertriebsgebiet, weil sie auf dessen Wirtschafts- und Wettbewerbsleben einwirken (vgl. BGE 100 II 450 S. 451 f.). Das als doppelrelevante Tatsache zu unterstellende Alleinvertriebsrecht bezog sich gemäss klägerischer Darstellung auf die Schweiz, weshalb auf die vertriebsbezogene Verpflichtung der Beklagten schweizerisches Recht anzuwenden ist.
c) Die Vorinstanz bestimmte den Erfüllungsort der vertriebsbezogenen Verpflichtung der Beklagten nach Art. 74 Abs. 2 Ziff. 3 OR . Diese Subsumtion wird von der Klägerin zu Recht nicht beanstandet. Der Erfüllungsort wurde deshalb bundesrechtskonform am Sitz der Beklagten lokalisiert.

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