Urteilskopf
146 I 115
12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Departement für Sicherheit des Kantons Wallis, Dienststelle für Straf- und Massnahmenvollzug und Straf- und Massnahmenvollzugsgericht Wallis (Beschwerde in Strafsachen)
1B_111/2020 vom 31. März 2020
Regeste
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
;
Art. 5 Abs. 1 und
Art. 31 Abs. 1 BV
; Art. 221, Art. 229-233 und Art. 363 f. StPO. Ausreichende gesetzliche Grundlage für Sicherheitshaft im massnahmenrechtlichen gerichtlichen Nachverfahren.
Auseinandersetzung mit dem Urteil des EGMR I.L. gegen Schweiz vom 3. Dezember 2019. Die analoge Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Sicherheitshaft im selbstständigen gerichtlichen Nachverfahren stützt sich auf eine lang andauernde und konstante Rechtsprechung des Bundesgerichtes. Hinzu kommt, dass das Bundesgericht in diversen Entscheiden eine klare gesetzliche Regelung zur vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft aus Gründen der Rechtssicherheit als wünschbar bezeichnet und der Gesetzgeber diese Anregung konsequent aufgenommen hat. Im hier beurteilten Fall ist nicht ersichtlich, dass die massgeblichen Rechtsquellen für den anwaltlich verbeiständeten Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Anordnung der Sicherheitshaft nicht voraussehbar oder nicht hinreichend klar gewesen wären (E. 2).
A.
A. wurde mehrmals wegen wiederholter sexueller Handlungen mit Kindern, Pornografie und weiteren Delikten zu insgesamt mehr als sechs Jahren Freiheitsstrafe und einer ambulanten therapeutischen Massnahme rechtskräftig verurteilt. Mit Entscheid vom 28. März 2013 wandelte das Straf- und Massnahmenvollzugsgericht Wallis (nachfolgend: Vollzugsgericht) die vollzugsbegleitende ambulante Massnahme in eine stationäre therapeutische Massnahme um. Am 28. März 2018 verlängerte es diese Massnahme (rechtskräftig) bis Ende Dezember 2019.
B.
Am 2. Dezember 2019 beantragte die kantonale Dienststelle für Straf- und Massnahmenvollzug, Amt für Sanktionen und Begleitmassnahmen (nachfolgend: Vollzugsdienst), beim Vollzugsgericht die
BGE 146 I 115 S. 117
Verlängerung der stationären Massnahme im gerichtlichen Nachverfahren. Da sich das Vollzugsgericht nicht in der Lage sah, vor Ablauf des Vollzugstitels am 31. Dezember 2019 bereits ein neues Massnahmenurteil zu fällen, beantragte es dem kantonalen Zwangsmassnahmengericht (nachfolgend: ZMG) am 3. Dezember 2019 die Anordnung von Sicherheitshaft gegen den Verurteilten ab dem 1. Januar 2020 bis zum hängigen Entscheid im gerichtlichen Nachverfahren (vorläufig bis längstens zum 30. April 2020).
C.
Mit Verfügung vom 20. Dezember 2019 ordnete das ZMG die Versetzung des Verurteilten in Sicherheitshaft an (ab dem 1. Januar 2020 bis zum hängigen Entscheid im gerichtlichen Nachverfahren, vorläufig bis längstens zum 31. März 2020). Eine vom Verurteilten am 6. Januar 2020 dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht des Kantons Wallis, Strafkammer, mit Verfügung vom 30. Januar 2020 ab.
D.
Gegen die Verfügung des Kantonsgerichts vom 30. Januar 2020 gelangte der Verurteilte mit Beschwerde vom 2. März 2020 an das Bundesgericht. Er beantragt (in der Hauptsache) die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, die Feststellung, dass die gegen ihn angeordnete Sicherheitshaft ungesetzlich und verfassungswidrig sei, sowie seine unverzügliche Haftentlassung. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:
2.
Das Kantonsgericht bejaht das Vorliegen materieller Haftgründe in analoger Anwendung (der für die Sicherheitshaft vor einer Verurteilung geltenden Bestimmungen) von
Art. 221 und 229 ff. StPO
. Es legt dar, der Beschwerdeführer sei vier Mal wegen wiederholter sexueller Handlungen mit Kindern im In- und Ausland, Pornografie und weiteren Delikten zu insgesamt mehr als sechs Jahren Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden. Im stationären Massnahmenvollzug habe er weiter einschlägige Pornografie konsumiert.
Im Hinblick auf eine allfällige Lockerung des Massnahmenvollzugsregimes (Arbeitsexternat) im Jahr 2020 habe der Beschwerdeführer die Zusammenarbeit mit dem zuständigen psychiatrischen Sachverständigen verweigert. In seinem Gutachten vom 18. Oktober 2019 gehe dieser von einer hohen Rückfallgefahr für erneute pädosexuelle Delinquenz aus. Da "kein nennenswerter Therapieerfolg" eingetreten
BGE 146 I 115 S. 118
sei, komme derzeit weder eine Freilassung des Beschwerdeführers in Frage noch eine Weiterführung der stationären Massnahme am bisherigen Standort. Der Gutachter empfehle entweder die Verwahrung des Verurteilten oder "einen neuen Therapieanlauf in einer anderen Institution". Eine vom kantonalen Vollzugsdienst eingeschaltete zweite Sachverständige habe mit Schreiben vom 15. November 2019 die Weiterführung der stationären Massnahme empfohlen und "eine Entlassung des Beschwerdeführers im Verlauf des Jahres 2020 als nicht mehr möglich" erachtet.
Nach Ansicht des Kantonsgerichtes bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine weitere Verlängerung der bisherigen stationären therapeutischen Massnahme im hängigen massnahmerechtlichen Nachverfahren.
2.1
Der Beschwerdeführer bestreitet diese materiellen Ausführungen nicht. Er wendet sich jedoch gegen die Annahme einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für die gegen ihn angeordnete Sicherheitshaft und rügt diesbezüglich eine Verletzung von
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
sowie
Art. 5 Abs. 1 und
Art. 31 Abs. 1 BV
. Dabei stützt er sich auf ein vor wenigen Monaten ergangenes - aber noch nicht endgültiges - Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil
I.L. gegen Schweiz
vom 3. Dezember 2019, Nr. 72939/16,
http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-198715
[besucht am 31. März 2020]). Die fehlende Endgültigkeit schliesst jedoch nicht aus, den Entscheid des Kantonsgerichts auf seine Vereinbarkeit mit den vom EGMR im Urteil
I.L.
bestätigten Prinzipien zur gesetzlichen Grundlage des Freiheitsentzugs zu prüfen (Urteil 1B_24/2020 vom 3. Februar 2020 E. 2.2).
2.2
Gemäss
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
kann die Freiheit von Personen auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden, insbesondere nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht (lit. a) und bei psychisch Kranken (lit. e). Soweit es um die Rechtmässigkeit der Freiheitsentziehung einschliesslich der Frage geht, ob sie "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und verpflichtet zur Einhaltung seiner materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen. Darüber hinaus muss jede Freiheitsentziehung mit dem Schutzzweck von
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
vereinbar sein. Dieser liegt im Schutz des Einzelnen vor willkürlichem Freiheitsentzug (Urteil des EGMR [Grosse Kammer]
Ilnseher gegen Deutschland
vom 4. Dezember 2018, Nr. 10211/12, § 135 f.).
2.3
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für die Anordnung und Fortsetzung von Sicherheitshaft in selbstständigen nachträglichen Verfahren gemäss
Art. 363 ff. StPO
besteht derzeit noch nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die
Art. 221 und 229 ff. StPO
analog auf diese Verfahren anwendbar (
BGE 142 IV 105
E. 5.5 S. 113;
BGE 139 IV 175
E. 1.1-1.2 S. 178;
BGE 137 IV 333
E. 2.2-2.3 S. 336-338; je mit Hinweisen). Ausserdem hat der Bundesrat im Dezember 2017 einen Vorentwurf und im August 2019 einen Entwurf zur Teilrevision der Strafprozessordnung vorgelegt (BBl 2019 6697 ff.). Der dem Parlament unterbreitete Gesetzesentwurf orientiert sich inhaltlich eng an der bisherigen konstanten Rechtsprechung des Bundesgerichtes zur Sicherheitshaft im gerichtlichen Nachverfahren (vgl. dazu unten, E. 2.8). Zudem hat die Rechtskommission des Nationalrates an ihrer Sitzung vom 21. Februar 2020 beschlossen, die Artikel 364a und 364b des Gesetzesentwurfes betreffend die Sicherheitshaft im Nachverfahren (vgl. näher unten, E. 2.8) in eine separate Vorlage zu überführen und zeitlich vorzuziehen, damit die Bestimmungen rascher in Kraft treten können (vgl. deren Medienmitteilung www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-rk-n-2020-02-21.aspx [besucht am 31. März 2020]).
2.4
Eine analoge Anwendung haftrechtlicher Bestimmungen ist angesichts der Schwere des in Frage stehenden Eingriffs in die persönliche Freiheit in der Regel ausgeschlossen. Sie kann indessen mit den Anforderungen von
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
vereinbar sein, wenn sie sich auf eine lang andauernde und konstante Rechtsprechung ("jurisprudence ancienne et constante") stützt (Urteile des EGMR
Laumont gegen Frankreich
vom 8. November 2001, Nr. 43626/98,
Recueil CourEDH 2001-XI S. 1
§ 27 und 51;
I.L. gegen Schweiz
, § 48;
Porowski gegen Polen
vom 21. März 2017, Nr. 34458/03, § 78 und 125 ff.;
Mooren gegen Deutschland
vom 9. Juli 2019, Nr. 11364/03, § 48 und 91). Im Urteil
Laumont gegen Frankreich
erachtete der EGMR fünf Präzedenzfälle als "konstante Praxis" (§ 27). Entscheidend ist nach der Praxis des EGMR, dass das Recht für die Betroffenen unter den gegebenen Umständen und allenfalls unter Beizug fachkundigen Rats hinreichend klar und sein Gehalt somit voraussehbar ist (Urteil des EGMR
Steel u.a. gegen Vereinigtes Königreich
vom 23. September 1998, Nr. 24838/94,
Recueil CourEDH 1998-VII S. 2735
§ 54).
2.5
Dem erwähnten Urteil des EGMR
I.L. gegen Schweiz
lag - wie im vorliegenden Fall - ein selbstständiges nachträgliches Verfahren
BGE 146 I 115 S. 120
zu Grunde, das die Verlängerung einer stationären Massnahme gemäss
Art. 59 Abs. 4 StGB
zum Gegenstand hatte (Urteil 6B_834/2016 vom 16. August 2016). Der EGMR kam zum Schluss, die im innerstaatlichen Verfahren angeordnete Sicherheitshaft lasse sich nicht auf eine konstante Rechtsprechung stützen, wobei er dies im Wesentlichen damit begründete, dass es lediglich einen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts gebe, der dieselbe Situation betreffe, nämlich
BGE 139 IV 175
(Urteil
I.L.
, § 28 und 51). Ob die Rechtsprechung als "lang andauernd" qualifiziert werden könnte, liess er offen (Urteil
I.L.
, § 54).
2.6
Die Erwägungen im Urteil
I.L. gegen Schweiz
bedeuten nicht ohne Weiteres, dass im vorliegenden Fall
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
verletzt wurde. In Fällen wie dem vorliegenden ist vielmehr - unter Berücksichtigung der dargelegten, in der Praxis des EGMR entwickelten Grundsätze - zu prüfen, ob sich die analoge Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zur Sicherheitshaft durch das Kantonsgericht auf eine lang andauernde und konstante Rechtsprechung stützen lässt (Urteil 1B_24/2020 vom 3. Februar 2020 E. 3).
Zunächst ist zu beachten, dass massgeblich der Stand der Rechtsprechung und Gesetzgebung am 20. Dezember 2019 ist, als das kantonale Zwangsmassnahmengericht die Sicherheitshaft (per 1. Januar 2020) anordnete (Urteile des EGMR
Weber gegen Schweiz
vom 26. Juli 2007, Nr. 3688/04, § 42;
Wloch gegen Polen
vom 19. Oktober 2000, Nr. 27785/95, § 114). Im Verfahren
I.L. gegen Schweiz
war es dagegen der 13. Juni 2016, als das in jenem Fall zuständige Zwangsmassnahmengericht die Sicherheitshaft anordnete (vgl. die Sachverhaltsangaben im zit. Urteil 6B_834/2016; s. auch zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2).
Wesentlich ist sodann, dass das Bundesgericht nebst den in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheiden seit dem 1. Januar 2000 einen grossen Teil seiner Urteile und seit dem 1. Januar 2007 sämtliche Endentscheide auf dem Internet publiziert (www.bger.ch unter "Rechtsprechung"). Diese Rechtsprechung ist ebenfalls zu berücksichtigen. Aus dem Hinweis im Urteil
I.L. gegen Schweiz
, es gebe lediglich einen Grundsatzentscheid, der dieselbe Situation betreffe, ist nicht auf das Fehlen einer lang andauernden und konstanten Rechtsprechung zu schliessen. Soweit dieselbe Situation bzw. Rechtsfrage betroffen ist, steht definitionsgemäss am Anfang einer konstanten Rechtsprechung ein einziger Grundsatzentscheid, während die nachfolgenden Entscheide diesen bestätigen und deshalb
BGE 146 I 115 S. 121
insofern nicht wiederum als Grundsatzentscheide bezeichnet werden können. Entsprechend werden sie vom Bundesgericht nicht in der Amtlichen Sammlung, jedoch im Internet veröffentlicht (siehe Art. 58 f. des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht [BGerR; SR 173.110.131]; vgl. auchSTUDER/URWYLER, EGMR, Dritte Abteilung, Urteil vom 3. Dezember 2019 i.S. I.L. gegen die Schweiz - Beschwerde Nr. 72939/16, forumpoenale-Online first, 20. Februar 2020, S. 4 Rz. 2; PAUL TSCHÜMPERLIN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 7 und 13 zu
Art. 27 BGG
). Dies entspricht im Übrigen, soweit ersichtlich, auch der Publikationspraxis des EGMR (vgl. zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2).
Schliesslich stellt sich die Frage, welche Entscheide zum Nachweis des Bestehens einer lang andauernden und konstanten Rechtsprechung beizuziehen sind. Der EGMR unterschied im Urteil
I.L. gege
n
Schweiz
insbesondere zwischen der nachträglichen Anordnung einer Verwahrung einerseits und der (damals wie hier zur Diskussion stehenden) Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme (Urteil
I.L.
, § 50 f.). Diese nicht weiter begründete Kategorisierung vermag indessen aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen:
Vergleichbar bzw. "identisch" sind Entscheide, wenn sie in den rechtserheblichen Aspekten übereinstimmen. Soweit es um die Sicherheitshaft im Hinblick auf einen selbstständigen nachträglichen Entscheid des Gerichts geht, muss insofern massgebend sein, ob ernsthaft zu erwarten ist, gegen die betroffene Person werde der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion angeordnet. Dies entspricht im Übrigen der Formulierung des Gesetzesentwurfs, den der Bundesrat mit seiner Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung veröffentlichte (BBl 2019 6697, 6799 f.; s. dazu E. 2.8 hiernach). Insofern nach der in Aussicht stehenden Sanktionsform zu unterscheiden, entbehrt ebenso der inhaltlichen Rechtfertigung wie eine Unterscheidung nach den speziellen Haftgründen (vgl. zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2).
Der EGMR übersieht auch, dass im Zeitpunkt der Haftanordnung oftmals noch nicht feststeht, welche freiheitsentziehende Sanktion letztlich angeordnet wird. Auch im vorliegenden Verfahren hatte der psychiatrische Sachverständige (in seinem Gutachten vom 18. Oktober 2019) "entweder die Verwahrung des Beschwerdeführers oder einen neuen Therapieanlauf in einer anderen Institution" empfohlen.
BGE 146 I 115 S. 122
Entgegen der Darstellung in § 27 des Urteils
I.L. gegen Schweiz
betraf
BGE 137 IV 333
auch nicht lediglich die nachträgliche Anordnung einer Verwahrung, sondern wurde in den dortigen bundesgerichtlichen Erwägungen vielmehr ausdrücklich festgehalten, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass eine stationäre Therapiemassnahme
oder
eine Verwahrung ausgesprochen werde (E. 2.3.2 und 2.3.4 S. 337 f.; unzutreffend ist ebenso die im Urteil
I.L.
, § 30, getroffene Feststellung,
BGE 142 IV 105
betreffe die nachträgliche Anordnung der Verwahrung). Erläuternd hat das Bundesgericht in
BGE 141 IV 49
dazu festgehalten, es obliege dem Sachrichter, darüber zu entscheiden, ob die Reststrafe zu vollziehen, eine andere Massnahme oder gegebenenfalls die Verwahrung anzuordnen sei, wobei das Gericht nicht an den Antrag bzw. die Empfehlung der Vollzugsbehörde gebunden sei (E. 2.5 S. 53 mit Hinweisen). Welche Sanktion in diesen Fällen letztendlich vollzogen wird, kann vor diesem Hintergrund für die Frage der Voraussehbarkeit der anwendbaren materiellen Haftgründe keine Rolle spielen (vgl. zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.2; s. auch STUDER/URWYLER, a.a.O., S. 4 Rz. 2).
2.7
Damit ist von einer erheblichen Anzahl übereinstimmender publizierter höchstgerichtlicher Entscheide auszugehen, die ohne Weiteres als konstante Rechtsprechung zu qualifizieren sind (vgl. neben
BGE 142 IV 105
E. 5.5 S. 113,
BGE 139 IV 175
E. 1.1-1.2 S. 178 und
BGE 137 IV 333
E. 2.2-2.3 S. 336-338, insbesondere die Urteile 1B_24/ 2020 vom 3. Februar 2020 E. 3.3; 1B_41/2019 vom 19. Februar 2019 E. 2.2; 1B_569/2018 vom 28. Januar 2019 E. 3; 1B_486/2018 vom 22. November 2018 E. 7; 1B_204/2018 vom 15. Mai 2018 E. 1.3; 1B_548/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.1; 1B_270/2017 vom 28. Juli 2017 E. 1.3 und 6; 1B_490/2016 vom 24. Januar 2017 E. 2 oder 1B_371/2016 vom 11. November 2016 E. 4.6; je mit weiteren Hinweisen; zu dieser Praxis s. auch MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung [nachfolgend: BSK StPO], 2. Aufl. 2014, N. 6 zu
Art. 232 StPO
; MARIANNE HEER, in: BSK StPO, N. 9-10 zu
Art. 364 StPO
; ROTEN/PERRIN, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 54-58 zu
Art. 364 StPO
; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 2a zu
Art. 364 StPO
; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2. Aufl. 2014, N. 4a zu
Art. 364 StPO
).
BGE 146 I 115 S. 123
Diese Praxis war und ist im Übrigen offensichtlich auch dem Beschwerdeführer bekannt. Die konstante Rechtsprechung nahm ihren Anfang (mit
BGE 137 IV 333
) am 15. August 2011, das heisst wenige Monate nach Inkrafttreten der eidgenössischen Strafprozessordnung, und beansprucht somit bereits seit mehr als 8 1/2 Jahren Geltung (für die Fälle der Verlängerung einer therapeutischen stationären Massnahme oder nachträglichen Anordnung der Verwahrung s. auch Urteil 1B_6/2012 vom 27. Januar 2012). Damit ist auch das Kriterium der langen Dauer erfüllt. Daran ändert nichts, dass in gewissen vom EGMR beurteilten Fällen eine noch längere Praxis zur Diskussion stand (vgl. zit. Urteil 1B_24/2020 E. 3.4).
Es ist somit festzuhalten, dass sich die analoge Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Sicherheitshaft im selbstständigen gerichtlichen Nachverfahren betreffend Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme auf eine lang andauernde und konstante Rechtsprechung stützt.
2.8
Hinzu kommt schliesslich noch, dass das Bundesgericht in diversen Entscheiden eine klare gesetzliche Regelung zur vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft aus Gründen der Rechtssicherheit als wünschbar bezeichnet (vgl. die im zit. Urteil 1B_41/2019 E. 2.3 erwähnten Entscheide) und der Gesetzgeber die Anregung des Bundesgerichts (ab 2017) konsequent aufgenommen hat. Nicht nachvollziehbar ist die Erwägung des EGMR im Urteil
I.L.
, wonach aus dieser höchstrichterlichen Einladung an den Gesetzgeber auf eine mangelnde Konstanz der Rechtsprechung zu schliessen sei (so aber Urteil
I.L.
, § 53). Eine konstante Rechtsprechung und gezielte Anregungen de lege ferenda (durch die oberste staatliche Gerichtsinstanz) schliessen sich in einem demokratischen Rechtsstaat nicht aus.
Schon der bundesrätliche Vorentwurf zur Teilrevision der StPO vom Dezember 2017 (VE/StPO, www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/ gesetzgebung/aenderungstpo.html [zuletzt besucht am 31. März 2020]) sah den Erlass von spezifischen haftrechtlichen Bestimmungen für das massnahmenrechtliche gerichtliche Nachverfahren vor (Art. 364a und Art. 364b VE/StPO). Die vorgeschlagene spezifische Regelung der materiellen Haftgründe im Nachverfahren lehnt sich an die konstante einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtes an (Art. 364a Abs. 1 VE/StPO; zit. Urteile 1B_41/2019 E. 2.3; 1B_569/2018 E. 3; 1B_486/2018 E. 7; 1B_204/2018 E. 3.1; zu Art. 364a und Art. 364b
BGE 146 I 115 S. 124
VE/StPO vgl. auch MARC FORSTER, Gemeingefährliches Haftrecht? Zur Teilrevision des strafprozessualen Haftrechts gemäss dem Vorentwurf von 2017, Jusletter 26. März 2018 Rz. 41-42; ROTEN/PERRIN, a.a.O., N. 58 zu
Art. 364 StPO
).
Mit Botschaft vom 28. August 2019 hat der Bundesrat dem Parlament einen - inhaltlich praktisch identischen - Entwurf vorgelegt. Dieser sieht vor, das Kapitel zum Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts (
Art. 363 ff. StPO
) unter anderem durch folgende Bestimmungen zu ergänzen (BBl 2019 6697, 6799 f.):
Art. 364a
Sicherheitshaft im Hinblick auf einen selbstständigen nachträglichen Entscheid des Gerichts
1
Die Behörde, die für die Einleitung des Verfahrens auf Erlass eines selbstständigen nachträglichen Entscheids des Gerichts zuständig ist, kann die verurteilte Person festnehmen lassen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass:
a. gegen die Person der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion angeordnet wird; und
b. die Person:
1. sich dem Vollzug entzieht; oder
2. erneut ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begeht.
2
Sie führt in sinngemässer Anwendung von Artikel 224 ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung der Sicherheitshaft. Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 225 und 226.
3
Die zuständige Behörde reicht dem für den selbstständigen nachträglichen Entscheid zuständigen Gericht so rasch als möglich die entsprechenden Akten und ihren Antrag ein.
Art. 364b
Sicherheitshaft während des Gerichtsverfahrens
1
Die Verfahrensleitung des für den selbstständigen nachträglichen Entscheid zuständigen Gerichts kann die verurteilte Person unter den Voraussetzungen von Artikel 364a Absatz 1 festnehmen lassen.
2
Sie führt in sinngemässer Anwendung von Artikel 224 ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht beziehungsweise der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Anordnung der Sicherheitshaft. Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 225 und 226.
3
Bei vorbestehender Sicherheitshaft richtet sich das Verfahren sinngemäss nach Artikel 227.
4
Im Übrigen gelten die Artikel 230-233 sinngemäss.
2.9
Vor dem Hintergrund der dargelegten konstanten langjährigen
BGE 146 I 115 S. 125
Praxis des Bundesgerichtes und dem eng darauf aufbauenden Gesetzesentwurf vom August 2019 ist nicht ersichtlich, dass diese Rechtsquellen für den anwaltlich verbeiständeten Beschwerdeführer am 20. Dezember 2019, im Zeitpunkt der Anordnung der Sicherheitshaft, nicht voraussehbar oder nicht hinreichend klar gewesen wären.
Nach der erwähnten bundesgerichtlichen Praxis ergeben sich auch aus der Bundesverfassung (und dem übrigen Bundesrecht) in diesem Zusammenhang keine über das bereits Dargelegte hinausgehenden Ansprüche. Die Rüge der Verletzung des haftrechtlichen Legalitätsprinzips (
Art. 5 Ziff. 1 EMRK
,
Art. 5 Abs. 1 und
Art. 31 Abs. 1 BV
) erweist sich als unbegründet.
Abschliessend weist das Bundesgericht den kantonalen Vollzugsdienst darauf hin, dass Gesuche um Anordnung, Verlängerung oder Änderung von freiheitsentziehenden Massnahmen
zeitgerecht
zu stellen sind, um ein Wegfallen des bisherigen (vollzugsrechtlichen) Hafttitels im gerichtlichen Nachverfahren möglichst zu vermeiden. Im vorliegenden Fall hat der Vollzugsdienst sein Gesuch um Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme erst wenige Wochen vor Ablauf der bewilligten Vollzugsdauer eingereicht.