Schweizerische Strafprozessordnung
(Strafprozessordnung, StPO)

vom 5. Oktober 2007 (Stand am 1. Juli 2022)


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Art. 236 Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug

1 Die Ver­fah­rens­lei­tung kann der be­schul­dig­ten Per­son be­wil­li­gen, Frei­heits­s­tra­fen oder frei­heits­ent­zie­hen­de Mass­nah­men vor­zei­tig an­zu­tre­ten, so­fern der Stand des Ver­fah­rens es er­laubt.

2 Ist be­reits An­kla­ge er­ho­ben wor­den, so gibt die Ver­fah­rens­lei­tung der Staats­an­walt­schaft Ge­le­gen­heit zur Stel­lung­nah­me.

3 Bund und Kan­to­ne kön­nen vor­se­hen, dass der vor­zei­ti­ge Mass­nah­men­voll­zug der Zu­stim­mung der Voll­zugs­be­hör­den be­darf.

4 Mit dem Ein­tritt in die Voll­zugs­an­stalt tritt die be­schul­dig­te Per­son ih­re Stra­fe oder Mass­nah­me an; sie un­ter­steht von die­sem Zeit­punkt an dem Voll­zugs­re­gime, wenn der Zweck der Un­ter­su­chungs- oder der Si­cher­heits­haft dem nicht ent­ge­gen­steht.

BGE

117 IV 369 () from 9. April 1991
Regeste: 1. Art. 6 StGB. Verbrechen oder Vergehen von Schweizern im Ausland. Diese Bestimmung ist auch gegenüber einem Täter anwendbar, der das Schweizer Bürgerrecht nach der Verübung von Verbrechen oder Vergehen im Ausland erworben hat und wegen seines Schweizer Bürgerrechts nicht ausgeliefert werden kann (E. 3-7). 2. Art. 21 StGB. Versuchte Tat. Bestimmung des entscheidenden Schritts, von dem es in der Regel kein Zurück mehr gibt. Fall, in dem der entscheidende Schritt zur Verübung eines Mordes verneint wird (E. 8-10); Fall, in dem der entscheidende Schritt zur Verübung eines Raubes bejaht wird, obschon die Tat erst am folgenden Tag ausgeführt werden sollte (E. 11-12). 3. Art. 2 Abs. 2 StGB. Anwendung des milderen Rechts durch die letzte kantonale Instanz. Die "lex mitior" muss von einer kantonalen Kassationsinstanz (hier: des Kantons Tessin) angewendet werden, wenn diese nach ihrer Zuständigkeit - die ihr gestattet, aufgrund der tatsächlichen Feststellungen der ersten Instanz, ohne Rückweisung an diese, in der Sache selber zu urteilen, den angefochtenen Entscheid zu ändern und das Gesetz anzuwenden (Art. 237 StPO/TI) - in diesem Sinne einem Sachrichter gleichgestellt ist. Dazu genügt, dass sie zur Überprüfung von Bundesrecht befugt ist (E. 13-15a); es ist unerheblich, ob sie die diesbezüglichen Rügen gutheisst oder abweist (E. 15b-c). Fall betreffend die Änderung von Art. 112 StGB zwischen dem Urteil der ersten und dem Entscheid der zweiten Instanz. 4. Art. 112 StGB. Mord. Ob eine Tötung als Mord im Sinne des neuen Art. 112 StGB zu qualifizieren sei, kann nur aufgrund der direkt mit der Tat zusammenhängenden Umstände entschieden werden; Prüfung der Umstände des konkreten Falles (E. 18-19). Die "besondere Skrupellosigkeit" gemäss dem Wortlaut des neuen Art. 112 StGB kann auch dann eine Verurteilung wegen Mordes rechtfertigen, wenn sie nicht durch "eine besondere Verwerflichkeit des Beweggrundes, des Zwecks der Tat oder der Art der Ausführung" manifestiert wird. Die Aufzählung in Art. 112 StGB nennt nur Beispiele. Fall, in dem ein Richter getötet wird, einzig um durch diese Tat zur Destabilisierung des Staates beizutragen (E. 17-19).

137 IV 177 (1B_244/2011) from 24. Juni 2011
Regeste: Art. 5 Abs. 2, Art. 227 und 236 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV; Art. 5 Ziff. 4 EMRK; vorzeitiger Strafantritt während eines hängigen Rechtsstreits über eine Haftverlängerung. Ein laufendes Haftverlängerungsverfahren kann gegenstandslos werden, wenn die sich in Untersuchungshaft befindende Person vorzeitig ihre Strafe antritt und das Interesse an der Überprüfung der Haftvoraussetzungen verliert. Ein Verlust des Rechtsschutzinteresses ist jedoch nicht zwingend (E. 2.1). Die Rüge, es führe zu unnötigen und zeitraubenden Weiterungen, wenn nach dem vorzeitigen Strafantritt an Stelle eines hängigen Rechtsstreits über eine Haftverlängerung ein neues Haftentlassungsverfahren angehoben werden müsse, ist im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot und das Gebot der Prozessökonomie nicht unbegründet. Voraussetzung für eine beschleunigte und optimierte Verfahrensabwicklung ist allerdings, dass das Bundesgericht bzw. die kantonalen Behörden über die verschiedenen von den Verfahrensbeteiligten unternommenen Schritte bzw. parallel laufenden Verfahren informiert werden (E. 2.2).

139 IV 191 (1B_81/2013) from 14. März 2013
Regeste: Art. 236 StPO; keine periodische automatische Haftprüfung im vorzeitigen Strafvollzug. Die Untersuchungshaft endet mit dem vorzeitigen Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion (Art. 220 Abs. 1 StPO). Wenn die verhaftete Person dem vorzeitigen Strafvollzug zustimmt, verzichtet sie auf eine periodische automatische Überprüfung ihrer Haft. Sie hat jedoch in Anwendung von Art. 31 Abs. 4 BV sowie Art. 5 Ziff. 4 EMRK die Möglichkeit, jederzeit ihre Freilassung zu beantragen (E. 4).

141 IV 465 (6B_877/2014) from 5. November 2015
Regeste: Art. 422, 423 Abs. 1, Art. 424 und 426 Abs. 1 und 3 lit. a StPO; Begriff der Verfahrenskosten; gesetzliche Regelung der Gebühren; interne Weisungen; Beleg von Auslagen. Begriff der Verfahrenskosten; Abgrenzung zwischen Gebühren und Auslagen (E. 9.5.1). Die Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind keine Auslagen im Sinne von Art. 422 StPO. Sie dürfen der verurteilten Person nicht gestützt auf Art. 426 Abs. 1 StPO auferlegt werden. Kosten für die Bewachung zu Sicherungszwecken während eines Spitalaufenthalts sind den Kosten der Untersuchungshaft gleichzustellen (E. 9.5.2). Begriff der Kosten im Sinne von Art. 422 Abs. 2 lit. d StPO. Für Leistungen der Polizei, welche diese aufgrund ihrer Stellung als Strafbehörde in einem konkreten Strafverfahren zu erbringen hat, dürfen der verurteilten Person - abgesehen von allfälligen Auslagen für Material u.Ä. - keine Auslagen verrechnet werden (E. 9.5.3). Umgang mit Kosten für die medizinische bzw. ärztliche Behandlung der verurteilten Person (E. 9.5.4) sowie mit Kosten für die Reinigung des Tatorts (E. 9.5.5). Art und Bemessungsgrundlagen der Gebühren müssen gesetzlich geregelt sein. Soweit für die Begründung des pflichtgemässen Ermessens bei der Festsetzung der Gebühren auf interne Weisungen verwiesen wird, müssen diese der betroffenen Person zugänglich gemacht werden (E. 9.5.6). Pflicht der Staatsanwaltschaft, Auslagen zu belegen (E. 9.7).

142 IV 105 (6B_640/2015) from 25. Februar 2016
Regeste: Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB; stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen, Beginn der fünfjährigen Dauer. Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug im Sinne von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB umfasst auch den Freiheitsentzug zwischen der rechtskräftigen sowie vollstreckbaren Massnahmeanordnung und dem effektiven Behandlungsbeginn (E. 4 und 5).

143 I 241 (1B_34/2017) from 18. April 2017
Regeste: Art. 10 Abs. 2, Art. 14, Art. 32 Abs. 1 sowie Art. 36 Abs. 1, 2, 3 und 4 BV; Art. 78 Abs. 1, Art. 80, Art. 81 Abs. 1 und Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Art. 220 Abs. 2, Art. 235 Abs. 1, 2 und 5 sowie Art. 236 Abs. 1 und 4 StPO; Besuchsrecht unter strafprozessual inhaftierten Lebenspartnern. Sachurteilsvoraussetzungen bei Beschwerden in Strafsachen gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide betreffend den Vollzug von strafprozessualer Haft (E. 1). Vom Besuchsrecht unter Lebenspartnern tangierte Grundrechte; Sicherheitshaft und vorzeitiger Sanktionsvollzug als strafprozessuale Haftarten; gesetzliche Vorschriften und Praxis zum strafprozessualen Haftvollzugs- und Besuchsrecht. Mangels entgegenstehender gewichtiger öffentlicher Interessen haben auch strafprozessuale Häftlinge das Recht auf angemessenen regelmässigen Kontakt zu ihrer Familie, wozu auch unverheiratete Lebenspartner gehören. Dies gilt besonders nach länger andauernder strafprozessualer Haft und Wegfall von Kollusionsgefahr (E. 3). Besondere Konstellation, wenn zwei strafprozessuale Häftlinge in Sicherheitshaft bzw. im vorzeitigen Strafvollzug beantragen, sich gegenseitig besuchen zu dürfen; Verhältnis zwischen den beiden Haftregimes. Im vorliegenden Fall haben die kantonalen Behörden ein angemessenes Besuchsrecht des Beschuldigten in der Haftvollzugsanstalt seiner mitbeschuldigten Lebensgefährtin zu gewährleisten (E. 4).

143 IV 330 (1B_322/2017) from 24. August 2017
Regeste: Art. 221 Abs. 1 StPO; Art. 12 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 und Art. 111 StGB; Fortsetzung von Untersuchungshaft; dringender Tatverdacht einer eventualvorsätzlichen Tötung; Schuldfragen, Kausalzusammenhang. Der vom Haftrichter zu prüfende dringende Tatverdacht bezieht sich grundsätzlich auf ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verbrechen oder Vergehen. Dabei können sich auch Fragen hinsichtlich des Kausalzusammenhanges stellen. Das Vorliegen und das Ausmass der strafrechtlichen Schuldfähigkeit sowie die schuldangemessene bzw. sachlich gebotene (verschuldensunabhängige) Sanktion sind demgegenüber vom Sachrichter zu prüfen. Anders liegt der Fall, wenn ausnahmsweise schon im Haftprüfungsverfahren klar ist, dass weder eine Strafe noch eine freiheitsentziehende Massnahme in Frage kommen kann. Haftrechtliche Tragweite eines psychiatrischen Gutachtens, das dem Beschuldigten Schuldunfähigkeit attestiert. Dringender Tatverdacht einer eventualvorsätzlichen Tötung bejaht bei einem Fall von mutmasslichem versuchtem Suizid des Beschuldigten durch Frontalzusammenstoss seines Fahrzeuges mit einem entgegenkommenden Personenwagen, dessen Lenker dabei getötet wurde (E. 2).

145 I 318 (1B_146/2019) from 20. Mai 2019
Regeste: Art. 10 Abs. 2, 13, 36 BV, 8 EMRK, 235, 236 StPO, 74, 84 StGB und 89 des Waadtländer Reglements über die Stellung verurteilter Personen im Straf- oder Massnahmenvollzug (RSPC); Kontrolle der - ein- und ausgehenden - Post eines dem ordentlichen Vollzugsregime unterstehenden Beschuldigten im vorzeitigen Strafvollzug. Für die Personen im vorzeitigen Strafvollzug, die dem ordentlichen Vollzugsregime unterstehen (Art. 235 Abs. 2 und 3 sowie Art. 236 Abs. 4 StPO), stellt die systematische Öffnung ihrer - ein- und ausgehenden - Briefe und die Kenntnisnahme deren Inhalts (Art. 89 Abs. 3 und 5 RSPC) einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung der Vertraulichkeit der Korrespondenz dar. Diese Kontrollmassnahme, die auf einer genügenden Grundlage in einem Reglement beruht, bezweckt vor allem die Wahrung eines öffentlichen Interesses, d.h. das gute Funktionieren der Strafanstalt insbesondere in sicherheitsmässiger Hinsicht, welche Notwendigkeit auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die herrschende Lehre anerkennen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit wird ebenfalls gewahrt, da sich die allgemeine Kontrolle auf die Öffnung der Briefe beschränkt, die keinen Schutz nach Art. 89 Abs. 4 RSPC geniessen, also namentlich nicht den Verkehr des Gefangenen mit einem Anwalt sowie den Aufsichts- oder Strafbehörden betreffen. Dieses Vorgehen erlaubt auch die Gleichbehandlung sämtlicher Gefangener. Schliesslich muss jede allfällige Zensur dem Gefangenen mitgeteilt werden (Art. 89 Abs. 6 RSPC). Die in Art. 89 Abs. 3 und 5 RSPC vorgesehene systematische Kontrolle des Briefverkehrs verletzt damit kein Konventions-, Verfassungs- oder Bundesrecht (E. 2).

145 IV 65 (6B_691/2018) from 19. Dezember 2018
Regeste: Art. 59 Abs. 4 StGB; Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG; Anordnung und Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme; Beginn der Fünfjahresfrist; Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft. Die Interessen "tangierter Behörden" im Zusammenhang mit dem Massnahmenvollzug sind von der Staatsanwaltschaft zu wahren. Diese kann vor Bundesgericht rügen, der Beginn der Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme nach Art. 59 Abs. 4 Satz 2 StGB sei vom Gericht falsch berechnet worden, auch wenn der Antrag auf Verlängerung der Massnahme von der Vollzugsbehörde ausging (E. 1). Wird die stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB nicht aus der Freiheit heraus angetreten - was der Regel entspricht -, ist für die (Fünfjahres-)Frist gemäss Erstanordnung auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen (E. 2.2-2.7). Für die Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme ist der Zeitpunkt des Ablaufs der (Fünfjahres-)Frist gemäss Erstanordnung bzw. einer allfälligen vorausgegangenen früheren Verlängerung entscheidend. Letzteres gilt auch, wenn der Verlängerungsentscheid vor Ablauf der laufenden Periode erging, d.h. die (Fünfjahres-)Frist gemäss Erstanordnung bzw. der vorausgegangenen Verlängerung im Zeitpunkt des (neuen) Verlängerungsentscheids noch nicht abgelaufen ist (E. 2.8). Zulässigkeit und Grenzen der Verlängerung der Massnahme vor Ablauf der laufenden Periode (E. 2.9)

146 IV 49 (6B_95/2020) from 20. Februar 2020
Regeste: Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB; stationäre therapeutische Massnahme für junge Erwachsene, Beginn der vierjährigen Höchstdauer. Der vorzeitige Massnahmenvollzug ist bei der Berechnung der vierjährigen Höchstdauer gemäss Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB zu berücksichtigen. Abzustellen ist auf das Datum der Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenvollzugs (E. 2.4-2.9).

147 IV 209 (6B_1456/2020) from 10. März 2021
Regeste: Art. 63 Abs. 4 StGB; Anordnung einer ambulanten Behandlung von psychischen Störungen; Beginn der (Fünfjahres-)Frist. Wird eine ambulante Behandlung von psychischen Störungen erst nach deren rechtskräftigen Anordnung angetreten, beginnt die Fünfjahresfrist gemäss Art. 63 Abs. 4 Satz 1 StGB bzw. die richterlich festgesetzte Frist mit dem effektiven Behandlungsbeginn zu laufen. Hat die betroffene Person bereits "vorzeitig" - in Freiheit als Ersatzmassnahme oder während der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug - mit einer ambulanten Behandlung begonnen, ist für den Fristenlauf grundsätzlich auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen (E. 2.3 und 2.4).

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